freeBook Kein Espresso fuer Commissario Luciani
angelangt. Warum wollen Sie mir nicht die Wahrheit sagen?«
»Ich habe sie Ihnen gesagt. Das ist der Abschiedsbrief«, sagte der Linienrichter, wobei er ein Blatt von einem Notizblock
vorzeigte, »lassen Sie ihn von einem Graphologen untersuchen, wenn Sie mir nicht glauben.«
»Aber dieser Satz ergibt gar keinen Sinn.«
»Vielleicht ergab er für ihn einen Sinn.«
|393| Marco Luciani näherte sich dem Linienrichter: »Darf ich?« fragte er und griff nach dem Blatt. Er faltete es mit zittrigen
Fingern auseinander, las es und zuckte zusammen. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, und mußte seine ganze
Kraft aufbieten, um sie zurückzuhalten. Reglos starrte er immer wieder auf den Zettel. Er betrachtete jede noch so kleine
Unsicherheit der Schrift, jeden Knick im Papier. Es war ein Blatt vom Notizblock des Schiedsrichters, das Blatt, das der Seite
mit den Gelben Karten vorausging. Wer konnte wissen, ob Tullio Ferretti es herausgerissen hatte, bevor er den Rasen betrat,
und ob er es die ganze erste Halbzeit über in der Tasche herumgetragen hatte, während er auf einen Pausenpfiff wartete, der
für ihn der Schlußpfiff sein sollte? Vielleicht hoffte er, daß es ihm Glück brächte, zumindest für die fünfundvierzig Minuten,
daß es ihn zu einer tadellosen Leistung inspirierte. Und vielleicht hätte er sich, wäre dieser umstrittene Elfmeter nicht
gewesen, die Sache noch einmal überlegt, hätte es auf das Spielende oder auf das nächste Match verschoben.
Marco Luciani drehte wieder das Blatt in den Händen und las zum x-ten Mal den Satz. Es war unmöglich zu sagen, ob der Schiedsrichter
ihn vor Spielbeginn oder unmittelbar vor dem Selbstmord geschrieben hatte, ob er ihn seit Tagen oder gar Jahren im Kopf hatte,
ob er ihm in diesen fünfundvierzig Minuten wieder eingefallen war, als der Mittelstürmer hinter ihm her rannte, protestierte
und ihn bedrängte; als Ferretti instinktiv zurückwich und den Arm hob, um sein Gesicht zu schützen: »Drei Ecken ein Elfer«,
hatte er geschrieben. »Drei Ecken ein Elfer«, eine Botschaft, die nur ein einziger Mensch verstehen konnte, aber zu der alle
anderen sich ihren Teil denken konnten – wenn sie das denn wollten.
Er reichte Giampieri den Zettel: »Dazu brauchen wir kein Gutachten. Der ist echt. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich muß
mal auf Toilette.«
|394| Staatsanwalt Delrio herzte mit seinen Blicken die Ermittler. Er war am Abend zu ihnen gestoßen, nachdem er einige Anrufe bei
der Presse vorausgeschickt hatte, damit die Fernsehkameras auch bestimmt seine Ankunft verewigten. Am Eingang hatte er die
Reporter mit einem wissenden Lächeln bedacht und erklärt: »Ja, die Affäre ist in den Grundzügen geklärt.« Doch dann hatte
er hinzugefügt: »Nein, weitere Einzelheiten darf ich nicht bekanntgeben, ich hoffe, daß ich für morgen früh eine Pressekonferenz
anberaumen kann.«
»Also, klären Sie mich auf«, sagte er, »ich habe mitgekriegt, daß der Schiedsrichter sich umgebracht und Adelchi die Spuren
verwischt hat, aber Sie haben mir immer noch nicht den Grund genannt.«
Giampieri schaute Marco Luciani an und gab ihm das Startzeichen.
»Fangen wir von vorne an, oder besser gesagt: in der Halbzeitpause des Spiels. Es ist zirka 15.46 Uhr, Schiedsrichter Ferretti
holt sich den Schlüssel vom Hausmeister und geht direkt in seine Umkleide. Er lehnt den Tee ab und sagt, er wolle auf keinen
Fall gestört werden. Die Proteste des Publikums haben ihn völlig aus der Fassung gebracht, er will alleine sein und sich noch
einmal die Elfmeter-Szene anschauen. Vielleicht hat er die Fehlentscheidung nicht absichtlich getroffen, vielleicht doch,
das wissen wir nicht. Wahrscheinlich hat Adelchi ihn dazu verleitet. Er stellt sein neues Handy an, und über das Abonnement,
das er bei einem Sportkanal hat, läßt er sich die Bilder schicken. Er sieht, daß er völlig danebengelegen hat, und ihm wird
klar, daß für ihn wieder eine Leidenszeit beginnt, er malt sich die Proteste, Beschimpfungen, eine mögliche Suspendierung
aus. Seine Frau hat ihm gesagt, er solle nicht nach Hause zurückkommen, die Brasilianerin ist mit zweihundertfünfzigtausend
Euro durchgebrannt und geht nicht ans Telefon. Rebuffo, |395| der das Geld zur Verfügung gestellt hat, erwartet als Gegenleistung den Meistertitel, kurz: unser armer Ferretti steckt bis
zum Hals in der Scheiße. Er präpariert das Seil, zieht es durch den
Weitere Kostenlose Bücher