Freiflug (Die Ratte des Warlords II) (German Edition)
angewidertem Gesichtsausdruck weg. Kepler nahm hin, dass er seinem Bruder nur noch deswegen – vielleicht – etwas bedeutete, weil sie biologisch miteinander verwandt waren.
Eigentlich war es Kepler gleichgültig, dieses Verhalten begegnete ihm nicht zum ersten und mit Sicherheit nicht zum letzten Mal. Egal wofür Soldaten Blut vergossen, sie wurden immer dafür beschuldigt, auch wenn es ihr eigenes gewesen war. Viele zerbrachen daran oder kehrten ihre Überzeugungen ins Gegenteil um. Diese Gefahr sah Kepler bei sich selbst nicht, nur war es für ihn zum ersten Mal ungewohnt, damit zurechtzukommen, weil die Ablehnung von einem Menschen kam, der ihm nah stand. Aber eigentlich war es ihm egal. Weil Oma ihn nach wie vor trotz allem bedingungslos liebte. Und weil Sarah ihn auch liebte.
Aber anscheinend befürchtete sie, dass Jens' Abneigung berechtigt sein könnte.
An einem warmen Samstag organisierte sie ein Familiengrillen in Omas Garten. Kepler und Jens gingen sich dabei wie in letzter Zeit üblich aus dem Weg, aber es war trotzdem ein guter Tag geworden.
Nachdem Oma ins Bett gegangen war, schickte Sarah ihren Mann mit dem Kleinen nach Hause und blieb bei Kepler.
Eine Zeitlang tranken sie bedächtig Bier, dann steckte Kepler sich eine Zig arette an. Sarah rümpfte die Nase, weil der Wind den Rauch zu ihr herüberwehte.
"Dirk?", begann sie zögernd. "Was hast du in Afrika wirklich gemacht?"
Kepler blickte zu ihr und fing aus einem plötzlichen Impuls heraus an zu erzählen. Er begann damit, warum er die Bundeswehr verlassen hatte, wie die Schlägerei passiert war und wie er für World Vision gearbeitet hatte. Er erzählte was er dabei empfunden hatte, über seinen Unmut und das Gefühl der Machtlosigkeit, das immer stärker an ihm gezerrt hatte.
" Das kann ich nicht nachvollziehen", unterbrach Sarah ihn irgendwann.
Sie sagte es schuldbewusst , aber auch misstrauisch und verständnislos. Katrin hatte Recht, war man nicht da gewesen, konnte man es nicht begreifen.
"Ich glaube, ich kann es dir zeigen ." Kepler erhob sich. "Warte kurz."
Leise und vorsichtig, um Oma nicht zu wecken, ging er in sein Zimmer. Er sah Licht unter der Tür von Omas Zimmer und hörte ihre leise Stimme, aber die Worte konnte er nicht verstehen. Er blieb verwundert stehen, bis er sich erinnerte. Oma betete vor dem Schlaf, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte.
Kepler holte seinen Laptop und Katrins DVD und ging zurück. Es dauerte e inige Zeit, bis der Computer hochgefahren war und die DVD geöffnet hatte. Im Menü waren hunderte Bilder und ein Ordner. Kepler klickte das erste Bild groß, sah es an und rückte seinen Stuhl an den von Sarah.
"Hier, vielleicht kannst du es so besser verstehen."
Kepler war von berufswegen ein sehr guter Beobachter, und er war viel länger in Afrika gewesen als Katrin, aber manches hatte er nie so wahrgenommen, wie sie es vermocht hatte. Jetzt erst verstand er, was er damals nur gesehen hatte.
Wie d ie Augen der alten Nubafrau, die an der Kamera vorbei in die Weite blickte. Obwohl teilweise im Schatten der Hütte, sah Kepler darin die Freude über das kleine bisschen Geld und den verletzten Stolz, darauf angewiesen zu sein, die Hoffnung, dass der Weiße ihr und ihrem Volk helfen würde, die tiefe Entschlossenheit, es selbst zu tun, und die Ohnmacht, es nicht zu können.
Wie die Augen eines Mädchens, das wohl zum ersten Mal in seinem Leben in eine Kamera blickte. Da waren kindliche Neugier – und eine Erkenntnis über das Leben, die in den Augen einer Sechsjährigen niemals sein durfte.
Katrin konnte die Seele des Augenblicks auf den Film bannen, gerade, schnörkellos, direkt. Als wenn sie den magischen Blick hätte, die Fähigkeit, die Wahrheit hinter dem Motiv zu sehen – und sie zu zeigen. Ihre Bilder hatten eine ungeheuchelte Wirkung, weil sie nicht gestellt waren. Katrin nahm Dinge wahr, die anderen verborgen waren. Aber in Afrika war dieses Verborgene nicht nur schön gewesen und damit war Katrin nicht klargekommen. Deswegen blutete ihre Seele und schrie verzweifelt. Katrins Magie war ihr Fluch geworden.
Kepler sah Sarah an. Noch vor einer Stunde hatte sie gelacht und ihn aufgezogen, nun glitzerten Tränen in ihren Augen. Sie bemerkte seinen Blick und nahm seine Hand. Sie drückte sie immer stärker zusammen, je mehr Bilder sie ansah.
Als sie fertig war, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und atmete einige Male mit geschlossenen Augen tief durch.
"Diese Bilder sind
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