Freiwild Mann
haben wir es kaum benutzt, aber der Sprit kann nicht mehr allzu viele Kilometer reichen.“
Rura ging mit ihm nach draußen und las die Treibstoffanzeige ab. Bei mittlerem Antrieb würde es vielleicht noch einhundert Kilometer machen, bei Höchstgeschwindigkeit sechzig.
„Wie übersteht es den Winter?“ fragte Diarmid. „Von diesen Dingen verstehe ich wenig.“
„Gut genug. Sie sind so konstruiert, daß sie extremen Witterungsbedingungen standhalten.“
„Gelobt seien die weiblichen Technikerinnen. Wenn der Frühling kommt und wenn wir so lange leben, dann ist es uns vielleicht möglich, gemütlich in unser Ende zu fahren.“
Rura drehte sich um und betrachtete das Haus im Wald. Die Luft war warm, und noch war es Hochsommer. Doch die ersten dezenten Anzeichen des Herbstes begannen sich zu zeigen. Die Probleme und Schwierigkeiten des nächsten Frühjahrs betrafen sie jetzt nicht, noch nicht einmal die des Winters. Sie war zufrieden damit, jeden Tag so zu nehmen, wie er kam. Jeder Tag war ein Pluspunkt. Ein Schatz, dem Griff der Ewigkeit entwunden.
24
Die immer kürzer werdenden Tage folgten rasch aufeinander. Die Gräser verbreiteten ihre Samen, wurden gelb, dann vom Regen zu Boden gedrückt. Die Luft war scharf, die Nächte waren kalt. Von Buchen, Eichen und Eschen fielen die Blätter. Nur die Nadelbäume behielten ihr Grün.
Das Haus wurde zum Heim. Die vorherigen Bewohner lagen begraben unter einem Meter schottischer Erde, und ihre Anwesenheit wurde einzig von einem hölzernen Zeichen angedeutet, das bereits von Flechten bedeckt war. Rura hatte einige kaum lesbare Briefe in dem Schrank gefunden – Briefe, deren Inhalt bewies, daß sie vom einzigen in Schottland möglichen Postsystem ausgeliefert worden waren, den umherziehenden Männern. Männern mit Dolchen und Bogen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um eine Art Verbindung zwischen den dahinschwindenden kämpfenden Sippen aufrechtzuerhalten. Jenny war ursprünglich Mitglied der Murray-Sippe gewesen. Duncan Lindsay hatte sie sehr gemocht und mühevoll einen einfachen Heiratsantrag in Blockschrift aufgesetzt.
Er lautete: „Ich, Duncan Lindsay, freier Mann aus Schottland, nehme Jenny Murray, freie Frau aus Schottland, als Frau. Diese Heirat bindet uns bis zum Tod, der, wie Gott es will, jederzeit nahe ist. Unterschrift: Duncan Lindsay.“
Dem hatte Jenny hinzugefügt: „Ich, Jenny Murray, gehe aus freiem Willen mit Duncan Lindsay in die Ehe. Meine einzige Bedingung ist auch seine Bedingung. Dies schwöre ich. Unterschrift: Jenny Murray, durch diese Unterschrift zu Jenny Lindsay geworden.“
Das Papier war zerrissen, spröde und befleckt. Die mit Bleistift geschriebene Schrift war kaum noch leserlich. Für Rura waren die Worte die allerschönsten, die sie jemals gelesen hatte. Dieses Dokument war die schönste Sache, die sie jemals besessen hatte.
Sie las es Diarmid vor, eines Abends bei Kerzenlicht. Er nahm sie in die Arme und sagte: „Wenn ich gelernt habe, ordentlich zu schreiben, dann werde ich auch so etwas aufschreiben, und du wirst auch noch etwas hinzufügen. Wer weiß, vielleicht findet das dann auch jemand in hundert Jahren wieder und wird wundervoll bewegt.“
„Oder zu Tränen gerührt“, sagte Rura.
Er schüttelte den Kopf. „Die Frauen der Zukunft werden um uns nicht weinen. Schon eher werden sie über uns lachen.“
„Wenn sie sich nicht klarmachen, was sie verloren haben.“
Diarmid lachte grimmig. „Was sie nie gekannt haben, das können sie auch nicht vermissen. In einer Welt ohne Männer werden sie uns nur als etwas Böses in Erinnerung haben. Wie sonst sollten sie ihren Stolz und ihre Selbstachtung behalten?“
Rura dachte darüber nach, wußte aber keine Antwort, deshalb hielt sie ihn fest.
Eines Morgens war der Boden gefroren. Es war der Morgen, an dem Rura sich übergab.
Zum Frühstück hatte es Brombeeren und Äpfel gegeben, köstlich frische Forelle, frisches Brot, von den schwindenden Mehlvorräten gebacken. Es war ein himmlisches Frühstück. Es war keinerlei Grund für Rura vorhanden gewesen, sich zu übergeben. Und doch mußte sie aus dem Haus eilen und zusehen, wie ihr Frühstück auf das frostige Gras klatschte.
Diarmid kraulte ihren Rücken und beruhigte sie. Sie wußte nicht, was geschehen war. Er wußte es. Er hatte dergleichen zuvor schon gesehen.
„Du kriegst also ein Kind, Rura. Ist das nichts?“
Sie war verwirrt, entsetzt. Und doch wußte sie, daß sie nicht weiter hätte
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