Freiwild Mann
nur die leiseste Ahnung, warum. Die offizielle Erklärung war: Depressionen wegen Überarbeitung. Wegen ihrer Verdienste hatte sie ein Staatsbegräbnis bekommen. Rura, die nach ihrem zehnten Lebensjahr nicht mehr viel von ihrer Mutter gesehen hatte, wurde ein Mündel der Republik.
Diarmid MacDiarmid war der Sohn von Diarmid Mac- Diarmid, eines Stammeshäuptlings aus dem Hochland, der einfach nicht verstehen konnte, was im Süden geschehen war. Die Republik Anglia, lange vor seiner Geburt gegründet, war ihm unerklärlich. Ein Haufen Frauen, die ein albernes Spiel abzogen, das war alles. Er versammelte seine Sippe und marschierte nach Süden gen Anglia, sicher in dem Glauben, daß diese verdammten Frauen sich vor einer entschlossenen Kampftruppe in nichts auflösen würden. Bei Edinburgh waren sie geschlagen und aufgerieben worden. Seine dreihundert Hochländer wurden von zwanzig Grenzerinnen vom Erdboden hinweggefegt. Die Grenzerinnen hatten Frautos und Lasergewehre. Diarmid MacDiarmids Truppe hatte so etwas nicht. Der junge Diarmid wurde mit seiner Mutter allein zurückgelassen. Er war damals acht Jahre alt.
Rura konnte die Art Leben, die Diarmid geführt hatte, leicht verstehen. Sie bekam einen Geschmack davon gerade selber zu spüren. Diarmid auf der anderen Seite hatte Schwierigkeiten, sich die Welt, die Rura verlassen hatte, vorzustellen. Er wußte Bescheid über Vernichterinnen, über den Gebrauch von Waffen und taktische Kriegführung. Aber die einzigen Städte, die er je gesehen hatte, waren tote Städte, die sie nach Metall, Glas, Geräten, Stoff, Werkzeugen und Waffen abgegrast hatten.
Und eine Stadt wie London überstieg seine Vorstellungskraft. Er, der sein ganzes Leben in den wilden, leeren Weiten des Hochlands verbracht hatte, konnte nicht verstehen, wie eine Million Menschen – eine Million Frauen – so aufeinandergeballt harmonisch zusammenleben konnten. In einer Stadt hätte ihn die Platzangst verrückt gemacht. Die ungeheuren Entfernungen zwischen den Sternen konnte er besser verstehen als die Tatsache, daß menschliche Wesen, sogar Frauen, damit einverstanden waren, buchstäblich übereinander in riesigen Blocks zu leben, die ihm wie Käfige vorkamen und noch nicht einmal für Ratten geeignet gewesen wären.
Aber obwohl sein Erfahrungsbereich begrenzt war für seine Wahrnehmungsfähigkeit galt dies nicht. An eine Sache glaubte er – und er glaubte sie mit wilder Eindringlichkeit nämlich daß Frauen ohne Männer nicht wirklich menschliche Wesen sein konnten. Es war ein Glaube, zu dem Rura bereits mehr als zur Hälfte konvertiert war. Von Männern dachte sie nicht mehr länger als von Schweinen, als von Kreaturen, deren einziges Ziel es war, Frauen zu erniedrigen und zu unterdrücken, ihre Kreativität unterzubuttern und sie sich allgemein minderwertig fühlen zu lassen.
Das Leben mit Diarmid hatte sie stolz gemacht. Jemand brauchte sie sowohl als Sexualobjekt wie auch als Frau. Jemand brauchte sie so sehr, daß er sein Leben für sie riskierte. Jemand brauchte ihre Vagina, ihren Leib, ihre Brüste und ihren Geist. Jemand brauchte sie bis in den Tod.
Rura war von Frauen geliebt worden, aber nicht auf diese Art. Noch nie hatte sie ein derart intensives, erschöpfendes Verlangen gekannt. Und auch solche Erfüllung hatte sie noch nie erlebt.
Es öffnete ihr die Augen. Keine Frau hatte sie jemals so gebraucht, wie Diarmid sie brauchte. Noch hatte sie jemals eine Frau so sehr benötigt, wie sie jetzt Diarmid benötigte.
Als der schottische Herbst sich dem Winter zuneigte, als ihr Bauch dicker wurde und ihre Brüste anschwollen, da lernte Rura, daß Glück etwas sehr Einfaches ist. Alles, was dazu zu tun war, bestand einfach darin, man selbst zu sein.
Sie wußte auch, daß sie in einer Welt lebte, in der solches Glück nicht dauerhaft sein konnte.
Rura Alexandra, die frühere Vernichterin, hatte jetzt nur noch ein einfaches Ziel. Sie wollte nur noch lange genug leben, um ihr Kind auf die Welt zu bringen – nicht ein geklontes Kind, auch kein künstlich befruchtetes, sondern eines, das von einem Mann in Wut oder in Liebe gezeugt worden war – und die ersten Schritte auf dem Weg zur Reife mit ihm zusammen gehen zu können.
25
Eines frühen Morgens kam der Schnee. Leichter Pulverschnee, die Visitenkarte des Winters. Schon bald würde es mehr Schnee geben. Schon bald würde der Winter kommen, um vorerst zu bleiben. Rura wußte, daß die Monate, die kamen, lang und hart werden würden,
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