Freiwild Mann
konnte. Sie lernte, wie man Äpfel aufbewahren mußte, damit sie den Winter überdauerten, sie lernte, eßbare Pilze sowie Gewürzblätter und Beeren zu erkennen und zu sammeln. Sie lernte, die alten Lieder zu singen, die Diarmid so gern mochte, die Dinge zu tun, die ihm angenehm waren, wann sie passiv zu sein und wann sie die Initiative zu ergreifen hatte und wie sie auf ihn reagieren mußte, um ihn zu erregen. Sie fing an, auf das Anschwellen ihrer Brüste und ihres Bauches stolz zu sein. Das waren die äußeren und sichtbaren Zeichen ihrer wahren Natur als Frau.
Abends brachte sie, wie sie es versprochen hatte, Diarmid das Lesen bei. Er lernte schnell, die Buchstaben zu unterscheiden. Schnell war er in der Lage, die kürzeren Worte zu lesen.
„Meine Liebe ist wie eine rote Rose …“
Dieses alte Lied kannte er bereits. Aber als er die Worte des Gedichts auf sprödem und braunfleckigem Papier sah, da geschah die Explosion des Verstehens in seinem Kopf.
„Und ich komm’ wieder, Liebste mein, und wären’s zehntausend Meilen.“
Bald las er die Romane von Sir Walter Scott laut bei Kerzenlicht vor, während das Holz im Herd knisterte und Funkenreigen durch den Kamin fuhren und in der Herbstnacht erstarben.
Die Truhe, die Jenny und Duncan Lindsay gehört hatte, enthielt Schätze, die über seine bisherige Vorstellungskraft gegangen waren. Das Buch über Astronomie warf ihn um. Die Sterne waren für ihn immer nur Dinge gewesen, die bei klarem Himmel eben einfach vorhanden waren, sanft im Sommer und hart wie Diamanten in der kühlen Klarheit der Winternächte.
Mit einem ziemlichen Schock stellte er fest, daß es viele Sonnen wie die Sonne gab, die die Erde erwärmte. Er machte sich die interstellaren Entfernungen klar. Er wurde mit Lichtjahren vertraut, und es wurde ihm klar, daß die Probleme der Erde und der Menschheit aus einer anderen Perspektive nur sehr kleine Probleme waren.
Der Herbst kam früh im schottischen Hochland, ein ungewöhnlich trockener Herbst, mit frostigen Nächten und ungewöhnlich warmen und sonnigen Tagen. Indianersommer. Diarmid wußte, daß diese Art Wetter Indianersommer genannt wurde, aber er wußte nicht, warum. Diese Bezeichnung hatte sich über Generationen erhalten.
Von Zeit zu Zeit fühlte er sich schuldig, weil er keine neue Kampftruppe aufstellte oder seine Dienste einem anderen Herrn anbot. Aber für solcherlei Dinge war das Jahr zu weit fortgeschritten. Der schottische Winter bot wenig Gelegenheit für kriegerische Aktionen. Normalerweise war das Grenzregiment mit Routinepatrouillen zufrieden. Normalerweise waren die Hochländer zufrieden, wenn sie überleben konnten. Der Winter in Schottland war für Curie Milford ebensoviel wert wie ein zweites Grenzregiment.
Der trügerische Indianersommer faszinierte Rura. Sie liebte es, tagsüber im Wald spazieren zu gehen, die goldenen Sonnenstrahlen durch die grünen Baumwipfel brechen zu sehen. Sie liebte es auch, am Meeresstrand entlangzulaufen – die See war nicht weiter als drei Kilometer vom Haus entfernt bei Ebbe gestrandete Krabben zu suchen, Muscheln zu sammeln, das westliche Sonnenlicht auf den verlassenen Inseln Rona, Raasay und Skye spielen zu sehen.
Aber am meisten liebte sie die Abende, wenn das Feuer im Herd knisterte, wenn der Kochtopf dampfte, gefüllt mit Fleisch, Gewürzen und Pilzen, und wenn Diarmid von den Bergen zurückgekehrt war. Das war eine Lebensweise, die Hunderte von Jahren alt war, das wußte sie. Ein einfaches leben. Ein Leben, das sich aus Jagen, Überleben, Wärme und Liebe zusammensetzte. An solchen Abenden, wenn sie genug gelesen und gesungen hatten, dann erzählten sie sich gegenseitig aus ihrem früheren Leben, versuchten einander zu verstehen, waren gierig, den Hintergrund des anderen zu verstehen, versuchten angestrengt, verschiedene Welten auf einen Nenner zu bringen.
Rura war die künstliche Frucht des Leibes der Aimée Alexandra, einer bekannten Ärztin, die selbst auch von einer Frau ausgetragen worden war. Aimée Alexandra hatte sich auf Herz-Lungen-Transplantationen spezialisiert. Sie hatte das Leben Dutzender von wichtigen Frauen der Republik Anglia verlängert. Sie hatte sogar Curie Milford ein neues Herz gegeben. Dann hatte sie ohne ersichtlichen Grund Selbstmord begangen.
Es war geschehen, als Rura sechzehn Jahre alt gewesen war und schon Studentin im Greer College der Emanzipation war. Aimée hatte sich ironischerweise ihr eigenes Herz aus dem Leib gebrannt. Niemand hatte auch
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