Freiwild
auf seine Beute warten würde. Tat ich einen Schritt zuviel in die Wiese hinein, würde er seine Fänge in mich schlagen. Ich rückte näher zu Ralf und raunte ihm zu: „Kannst du mich mal festhalten, bitte?“ Ralf legte seinen Arm locker um meine Schulter, achtsam, um meine Grenzen nicht zu überschreiten. Doch jetzt im Augenblick war es mir wichtiger, die Nähe zu Ralf zu demonstrieren und mich von ihm beschützen zu lassen, als auf Grenzen zu achten. So dicht wie ich konnte, drängte ich mich an ihn. Es dauerte eine Weile, in der ich wie eine Maus von der Schlange hypnotisiert auf das Gras starrte, bevor Patrick flüsterte: „Okay, ich sehe schon, du bist nicht alleine.“ Ich sah nicht, wie er wegschlich. Ich sah auch kein Gras wackeln. Er hätte noch immer direkt neben mir lauern können, und ich würde es nicht bemerken. Selbst Ralf hatte ihn nicht kommen sehen. Mir wurde schlecht. Es war tatsächlich ein Geist aus meiner Vergangenheit; aus einem anderen Leben, dem ich da gegenüber stand und das mir Angst machte.
„Lass uns gehen.“ Ich stand nach wie vor an Ralf geklammert und wollte nur weg hier. „Du siehst aber wirklich blass aus, geht es Dir gut?“,Ralfs sorgenvolles Gesicht machte mir schlagartig ein schlechtes Gewissen, aber ich wollte ihm auch nicht von meinen Abenteuern erzählen. „Hast du denn alles, was du fotografieren wolltest?“ Ich nickte und packte meine Ausrüstung unter den kritischen Blicken meiner angereisten Kollegen zusammen. Ich ging vor dem Finale des Manövers, das aus einem gehissten Fähnchen in der Nähe der Tribüne bestand? Unfassbar.
Ich runzelte die Stirn. Wie kam Patrick hierher? Was um Himmelwillen machte er hier? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mich fröstelte bei dem Gedanken, dass ich ihm wieder über den Weg laufen könnte. Ich hatte Patrick für ein abgeschlossenes, unbedeutendes Kapitel gehalten.
Kapitel 11
Bald fing es an zu schneien. Von einem Tag auf den anderen war es tiefster Winter, wo am Vortag noch fast Spätsommer gewesen war. Hier wechselte das Wetter von einem Extrem ins nächste. Die Berge rund um Ilidza hielten die Wolken im Tal. Die nächsten Tage schneite es ununterbrochen und das Camp glich bald einer einzigen weißen Fläche, nur durchzogen von mühsam frei geschaufelten Trampelpfaden.
Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, kurz vor Ralfs Feierabend bei ihm im Container vorbeizuschauen und meine Bilder für die Agentur von seinem Rechner aus zu verschicken. So konnte ich ihn direkt von der Arbeit abholen, ich sparte mir den Umweg über meinen Computer und wir verbrachten meist den Abend miteinander. Mehr als ein paar zaghafte Küsse war nicht zwischen uns passiert. Ich war im Bezug auf Berührungen jeglicher Art immer noch äußerst empfindlich und zurückhaltend. Ich genoss seine Gesellschaft und die Sicherheit, die er mir vermittelte, aber ich sehnte mich auch danach, ihn anzufassen.
Frierend kämpfte ich mich durch das Schneetreiben. Der Wind blies mir die Flocken direkt ins Gesicht und ich sah kaum noch den Weg direkt vor meinen Augen. Mittlerweile lag der Schnee fast eineinhalb Meter hoch. Rechnete man die aufgeschaufelten Berge dazu, ging mir der Schnee bis über meinen Kopf.
Es war äußerst ungemütlich und ich war froh, endlich Ralfs Container erreicht zu haben. Obwohl es nur ein paar hundert Meter waren, war ich über und über mit Schnee bedeckt. Fröhlich trat ich ein, klopfte mir den Schnee von meiner Jacke und rief: „Ralf? Hi!“, in den Raum. Aber niemand antwortete mir, die Arbeitsplätze wirkten alle wie ausgestorben. Ich ging in Ralfs Büro. Seit ein paar Tagen hatten die anderen Soldaten für Öffentlichkeitsarbeit, die im selben Container arbeiteten, Winterurlaub und Ralf war der einzige, der noch da war. „Ralf?“, rief ich erneut und diesmal kam ein knappes „Hier!“ als Antwort zurück. Das klang nicht gut.
Ralf stand mit verschränkten Armen vor seinem Rechner, unfähig, mir ins Gesicht zu sehen. Zornesfalten durchzogen seine Stirn. Ich sah, dass er innerlich vor Wut schnaubte und sich mühsam beherrschte. „Was ist los? Ist was passiert?“. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was in ihn gefahren sein konnte.
„ Wer ist Peter?“, er zischte die Frage durch seine zusammengebissenen Zähne. Ich sah, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten und bekam einen Schreck. Peter? Ich kapierte nichts. Seit Wochen hatte ich nicht mehr an ihn gedacht. Er war ein abgeschlossenes Kapitel geworden. „Hä? Ich
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