Freiwild
Bewegung im Gras sehen, dann wäre das ein Fehler und der Soldat könnte abgeschossen werden. Es musste sicher irre spannend sein, eine Wiese zu beobachten, auf der sich hoffentlich nichts tat. Die 'Jäger' in diesem Manöver bauten sich unterhalb der Tribüne auf und gingen in Position.
Ich baute mein Stativ neben den anderen Journalisten auf und montierte die Kamera. Was wollte ich hier eigentlich dokumentieren? Ein paar Schnappschüsse vom Minister und eine Wiese. Das würde meine Agentur sicher freuen, dass ich so fleißig Gras fotografierte. Die Sinnlosigkeit dieses Nachmittags wurde mit Sarkasmus zwar nicht weniger, aber erträglicher. Ralf stand gelangweilt neben mir. Er hatte dieses Manöver schon hunderte Male gesehen und auch selbst durchgeführt. Ich erhoffte mir, dass er mir ein paar Tipps geben konnte, damit ich den einen oder anderen Soldaten doch fotografieren könnte. Ich hatte als stationierte Journalistin einen entscheidenden Vorteil gegenüber den angereisten Kollegen und genoss es, dass Ralf mein exklusiver Berater war.
Der Oberst gab das Startsignal und es passierte - nichts. Hatte ich es mir doch gedacht. Der Minister schaute einige wenige Minuten durch ein Fernglas, gab es aber schnell auf. Ich fand es gemein, da sich die Soldaten auf dem Feld, die sich vermutlich viel Mühe gaben, einfach nicht weiter beachtet wurden.
„Woher weiß man eigentlich, dass sich tatsächlich jemand anschleicht? Ich mein', vielleicht stehen die alle am anderen Ende des Hügels und machen es sich gemütlich?“, wollte ich von Ralf wissen. Doch Ralf beugte sich vertraulich nah zu mir herunter und zeigte mit ausgestrecktem Arm irgendwo in die Mitte der Wiese: „Siehst du, da, das Büschel, das sich bewegt? Da ist einer.“ So angestrengt ich auch suchte, ich sah beim besten Willen nichts. Allerdings sah ich, dass alle Kollegen ihre Objektive in dieselbe Richtung drehten. Sie hatten Ralfs Wink bemerkt und erhofften sich bessere Bilder, wenn sie mich oder Ralf beobachteten. „Und hier vorne wird dann eine Flagge gehisst“, er zeigte wage auf eine Stelle, keine zwei Meter von der Tribüne entfernt, „damit wird dann festgelegt, wer gewonnen hat.“ Wiederum schraubten die Journalisten an ihren Kameras herum, bis alle das vermeintliche Ziel anvisiert hatten. „Ralf, zeig mal nach links!“ Ich grinste. Man konnte Fotografen so schön auf die Schippe nehmen. Wie vermutet, bewegten sich die Objektive in die selbe Richtung, wie Ralf gezeigt hatte. Ralf bemerkte mein Grinsen und spielte mit: „So, jetzt zeige ich mal nach rechts, guckst du, so, damit deine Kollegen mal was zu tun bekommen.“ Aber jetzt wurde langsam klar, dass wir nur Spaß machten und die Fotografen hörten auf, sich um uns zu kümmern. Ralf brummte enttäuscht: „Schade. Das hat gerade so einen Spaß gemacht!“.
„ Wie lange kann so etwas dauern?“. Mir wurde langweilig. Immer nur auf Gras zu schauen konnte mich nicht wirklich über Stunden begeistern. Ich sah sowieso nichts. Die heranschleichenden Soldaten waren doch alles Profis und würden wohl kaum aus dem Gras aufstehen, damit ich sie fotografieren konnte. „Och, so zwei-drei Stunden wird das schon gehen.“ Ich war wirklich nicht amüsiert. Mir taten jetzt schon die Füße weh vom langen Stehen. Allerdings konnte ich die Arbeit der heran robbenden Soldaten, im Gegensatz zum Minister, wenigstens würdigen. Ich drehte mich mit der Kamera herum, um ein paar Bilder vom Minister, der mittlerweile Zeitung las, zu machen. Es sollte dokumentiert werden, wie sehr er sich doch für seine Leute interessierte.
Der Startschuss war bestimmt schon eine Stunde her, da sprach mich das Gras leise an: „Anne! Hey!“. Was? Irritiert schaute ich mich um, aber ich sah niemanden, der mich ansprechen hätte können. „Pst!“, kam es wieder aus dem Gras. Ich starrte verzweifelt auf die Fläche, aber ich entdeckte außer einem Grashüpfer nichts. „Anne! Hier!“. Nun wackelte ein Büschel Wiese, kaum zwei Meter von mir entfernt. Patrick! Ich war erschrocken und trat einen Schritt näher zu Ralf und legte meinen Arm um seine Taille. Das letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war ein anhänglicher One Night Stand! Ralf, der nichts mitbekommen hatte, war freudig überrascht über meine Zuneigung und sah mich sanft an. „Hey, du siehst so blass um die Nase aus. Hast du einen Geist gesehen?“ Ich nickte, unfähig ihm zu sagen, wer da im Gras lauerte. Tatsächlich kam es mir vor, als ob da ein einsamer Wolf
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