Freiwild
genießen und mir die frische Brise um die Nase wehen lassen. Wie gerne hätte ich jetzt seine Hand gehalten oder mich umarmen lassen; aber ich konnte es nicht. Ralf musterte mich von unten bis oben: „So, 'groß' nennst du das, ja?“. Er zog mich schon wieder wegen meiner Körpergröße auf. „Jedenfalls hätte ich dich nicht alleine auf die Rennstrecke gehen lassen dürfen. Und dann, als du so im Dreck lagst... bewusstlos... ich hatte gedacht, du stirbst und hatte Panik, dich zu verlieren bevor ich dich hätte gewinnen können. Und als du dich dann so in deinem Zimmer eingemauert hast... alles wegen mir.“ Hilflos schaute er mich an. Endlich brach aus ihm heraus, was er die ganze Zeit in seinem Inneren versteckt hatte.
Dann stoppte er, um mir tief in die Augen zu sehen: „Das wirst du mir nie verzeihen können, oder?“. Mir stockte der Atem. Auf den Gedanken war ich gar nicht gekommen. Er war doch nicht verantwortlich für seine Kameraden. Das war also das, was ihn die ganze Zeit so bedrückt hatte. Ich lächelte ihn an. „Du Blödmann. Ich mache Dich für überhaupt nichts verantwortlich. Komm mal runter, dann muss ich nicht so hochgucken.“ Mir tat das Genick weh, weil ich meinen Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen sehen zu können. Dabei zog ich an seinen Händen, bis er fast mit der Nase an mich stieß. Langsam bewegte ich meinen Kopf in seine Richtung, bis ich ihn küssen konnte. Ich hauchte ihm eine leise Berührung meiner Lippen auf seine. So zart, dass man es kaum einen Kuss nennen konnte. „Fühlt sich doch noch komisch an“, flüsterte ich leise, „Ich glaube, das muss ich noch ein bisschen üben. Aber dafür brauche ich Zeit und deine Geduld.“ „Bitte“, erwiderte Ralf unsicher.
„Dann hast du dich nur um mich gekümmert, weil du ein schlechtes Gewissen hattest?“. Fast war ich ein wenig entrüstet, aber eigentlich war mir seine Antwort schon klar. „Nein, ich habe mich um dich nur gekümmert, weil ich bei dir sei wollte. Ich hätte dich genauso gut im Sanitätstrakt liegen lassen können. Aber das wollte ich nicht. Ich dachte, du fühlst dich in deinem Zimmer sicherer. Ich hatte außerdem einfach das Bedürfnis, mich um dich zu kümmern.“ Wieder hauchte ich ihm einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze. Ich war gerührt, dass er so für mich empfand. Ich hätte es niemals erwartet, so, wie er mich behandelt hatte. Der Wolf war schüchterner als vermutet.
Ich hatte meine Arbeit wieder aufgenommen, wurde aber von Ralf so gut es irgend ging begleitet. Konnte er nicht, hatte er für Ersatz gesorgt. Niemals war ich außerhalb meines Zimmers alleine. Ich hatte immer jemanden bei mir, der mich beschützte. So eine Situation wie auf der Rennstrecke sollte unmöglich noch einmal passieren können.
An diesem Tag war der Besuch des Verteidigungsministers angekündigt. Seit Tagen schon wurde das Camp aufgeräumt und alles geputzt, was überhaupt sauber gemacht werden konnte. Es wurden Protokolle ausgegeben, Fragenkataloge verteilt. Jede Minute des Besuchs war bis ins letzte Detail vorbereitet. Ich freute mich auf diesen Job, da der Minister üblicherweise einige Kollegen von der Presse um Schlepptau hatte und ich mich gerne mit ihnen austauschen wollte. Zum Programm gehörte die Beobachtung eines 'Tarnen und Täuschen' Manövers. Eine Wiese in der Nähe des Camps wurde geräumt und eine kleine Tribüne aufgebaut. Es wurden Soldaten ausgewählt, die vorführen sollten wie fähig sie darin waren sich anzuschleichen; andere sollten sie mit Farbpatronen abschießen, sobald sie sich zeigten. Ich fand es albern, dass die Soldaten, die eigentlich hier eine Mission zu erfüllen hatten, ein Manöver aus der Ausbildung zeigen sollten. Ich dachte eigentlich, dass so etwas zum festen Repertoire gehörte und sich hier nur fertig ausgebildete Soldaten befanden. Dafür hierher zu fliegen war sicherlich nicht nötig. Aber da der Minister die Gelder der Bundeswehr in der Hand hatte, konnte er sich alles wünschen und zeigen lassen was er wollte.
Die Wiese war mit Gras bewachsen, das mir bis zur Mitte des Schienbeins reichte. Wenn man sich so umsah, wirkte es wie eine einzige, ebene Fläche, die sanft im Wind wogte. Dort konnte sich sicherlich kein Soldat so verstecken, dass man ihn nicht sah, oder?
Der Minister nahm gelangweilt in der Mitte der Tribüne Platz und unterhielt sich mit dem Oberst, der wichtigtuerisch erklärte, was wir gleich zu sehen bekämen: nämlich nichts. Würden wir eine
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