Fremd fischen
Kumpel»und Annalises Vater zog, der diesen Spruch wirklich jedes Mal abließ, wenn ein Autofahrer vergaß, sein Fernlicht abzuschalten. Sie war komisch. Manchmal bissig oder sogar regelrecht gemein. Aber das machte sie nur noch komischer.
Ich spüle mir das Haar aus, und mir fällt noch etwas anderes ein. Eine Erinnerung, die mir seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr in den Sinn gekommen ist. Als hätte ich ein Foto von mir gefunden, von dem ich gar nicht wusste, dass es existiert. Darcy und ich waren frisch auf der High School, und wir standen nach dem Unterricht an unserem Spind. Becky Zurich, eins der bekanntesten Mädchen der Abschlussklasse (nicht nett, sondern eher boshaft und gefürchtet), kam mit ihrem
Freund Paul Kinser vorbei. Mit ihrem buchstäblich nicht vorhandenen Kinn und den viel zu dünnen Lippen war sie eigentlich keineswegs hübsch, aber damals konnte sie auf irgendeine Weise viele Leute, auch mich, davon überzeugen, dass sie es doch war. Und als Paul und Becky an uns vorbeigingen, schaute ich sie an. Weil sie bekannt waren und ich beeindruckt war – oder wenigstens neugierig. Sicher wollte ich auch hören, worüber sie reden, um so ein paar Einsichten dar über zu gewinnen, wie es ist, achtzehn (so alt!) und so cool zu sein. Ich glaube, es war nur ein beiläufiger Blick in ihre Richtung, aber vielleicht habe ich sie doch angestarrt.
Jedenfalls starrte Becky mit einer übertriebenen Grimasse zurück, mit großen Glotzaugen wie bei einer Cartoonfigur. Dann folgte ihr hyänenartiges, hämisches Lippenkräuseln, und sie fragte:«Was gaffst du so?»Und Paul ergänzte:«Maulsperre?»(Ich bin sicher, die Freundschaft mit Becky hatte ihn gemeiner werden lassen, aber vielleicht dachte er auch, es bringt ihm bei ihr ein paar Punkte ein, wenn er biestig ist.) Und wirklich, mein Mund stand weit offen. Tief beschämt klappte ich ihn zu. Becky lachte; sie war stolz darauf, dass sie ein Erstsemester blamiert hatte. Dann trug sie rosa Lippenstift auf, steckte sich ein frisches Kaugummi in ihren biestigen kleinen Mund und schnitt, um das Maß voll zu machen, noch einmal ein Gesicht zu mir herüber.
Darcy hatte in unserem Spind in ein paar Büchern herumgewühlt, aber den Zwischenfall hatte sie offenbar mitbekommen. Sie drehte sich um und beäugte das Pärchen voller Ekel – ein Blick, den sie durch langes Üben zur Meisterschaft gebracht hatte. Dann imitierte sie Beckys schrilles Lachen, streckte den Hals unnatürlich
weit nach hinten und zog die Lippen ein, bis sie unsichtbar waren. Sie sah abscheulich aus – haargenau wie Becky, der das Kichern im Halse stecken blieb. Ich musste ein Grinsen unterdrücken, denn einen Moment lang war sie völlig verdattert. Dann fasste sie sich wieder, trat einen Schritt auf Darcy zu und zischte sie an:« Miststück!»Ohne mit der Wimper zu zucken, starrte Darcy das Duo an und erwiderte:«Besser als ein hässliches Miststück zu sein. Findest du nicht auch, Paul?»
Jetzt war es an Becky, ihre neu entdeckte Widersacherin mit offenem Mund anzuglotzen. Und bevor ihr eine Erwiderung einfallen konnte, setzte Darcy noch eine Beleidigung mehr obendrauf.«Und übrigens, Becky – dein Lippenstift? Der ist so was von vorigem Jahr.»
Ich sehe den gesamten Augenblick plötzlich haarscharf vor mir. Ich sehe unseren Spind mit den Fotos von Patrick Swayze aus Dirty Dancing . Ich kann den deutlich kohlenhydrathaltigen, auf Fleisch basierenden Geruch aus der nahen Cafeteria förmlich riechen. Ich höre Darcys Stimme, kraftvoll und selbstbewusst. Natürlich wusste Paul auf ihre Frage nichts zu antworten, denn uns allen vieren war klar, dass Darcy Recht hatte – sie war hübscher als Becky. Und auf der High School behält man deshalb manchmal das letzte Wort. Sogar, wenn man im ersten Semester ist. Becky und Paul hasteten davon, und Darcy plauderte weiter über das, worüber wir geplaudert hatten, als wären Becky und Paul völlig bedeutungslos. Was sie auch waren. Mit fünfzehn fällt es nur schwer, das zu erkennen.
Ich drehe das Wasser ab, wickle mir ein Handtuch um den Körper und ein zweites um den Kopf. Ich werde Dexter anrufen, sobald ich im Büro bin. Ich werde ihm sagen, dass Schluss sein muss. Und diesmal meine
ich es ernst. Er heiratet Darcy, und ich bin die Ehrenjungfer. Wir lieben sie beide. Jawohl, sie hat ihre Macken. Sie kann verwöhnt, selbstsüchtig und tyrannisch sein, aber sie ist auch loyal und lieb und rasend komisch. Und die einzige Schwester im Herzen, die
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