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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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Einverständnis gezwungen und damit zu einem schwachen, ungewollten Gefühl von Kameraderie – er war nun noch unsicherer geworden und keine große Gefahr mehr. Schon ein paar Minuten später konnte Farber von ihm loskommen und ließ einen Brody zurück, der sich mit der Hand über sein stoppeliges, lackiertes Gesicht fuhr und Farber verwirrt hinterhersah.
    Als Farber forteilte, setzte seine innere Reaktion auf den Dialog ein. Er war von sich selbst tief enttäuscht und erstaunt, daß er es für notwendig befunden hatte, mit Brody selbst diesen kleinen Kompromiß zu schließen, daß er auf das Spiel überhaupt eingegangen war – ein Teil seines Ichs baute fleißig Entschuldigungen auf, die der andere mit Schuldgefühlen wieder einriß –, selbst wenn er es nur defensiv gespielt hatte.
    Schlangengleich bäumten sich hinter ihm schwarze Sturmwolken auf – fast zu gut zu seiner Stimmung passend –, während er seinen Weg hinunter zur Neustadt fortsetzte und sich selbst bis ins Mark verfluchte. Scham und Wut stiegen in ihm so dunkel und drohend auf wie die Wolken über seinem Kopf.
    Der Regen setzte ein, als er fast die Uferpromenade erreicht hatte, ein kalter, stechender Regen, durch den er hartnäckig weitertrottete, ohne je zu versuchen, irgendwo Unterschlupf zu finden. Glücklich über die Unbequemlichkeit und Kälte, ließ er sich von dem Regen durchpeitschen, als wollte er sich damit selbst kasteien. Als der Guß vorüber war und man ihn draußen über die Bucht hinaus auf das Alte Meer fegen sah, war Farbers Wut zu einem säuerlichen Rest Melancholie geschrumpft, der ihm den Magen verkrampfte und einen fauligen Geschmack im Mund hinterließ. Er war bis auf die Haut durchnäßt und kalt bis auf die Knochen, doch er lief weiter, und seine Stimmung wurde bei jedem Schritt schwärzer und schlechter. Auf seine Umgebung achtete er längst nicht mehr, wußte nicht, ob er allein war oder durch eine Menschenmenge stapfte, wußte nicht, wo er gerade war oder wohin er ging.
    Das Meer-Fluß-Haus tauchte vor ihm auf, ehe ihm überhaupt bewußt wurde, daß er den Weg von gestern nacht wiederholt hatte. Er spottete über seine Sentimentalität. Erwartete er etwa, hier Liraun wiederzufinden? Den Alàntene, die ganze Nacht noch einmal zu erleben? Nun, das würde er nicht, sagte er sich mit dumpfer, absoluter Sicherheit der erkannten Niederlage, die in ihrer Endgültigkeit fast schon wieder angenehm war. Er würde nichts, absolut nichts dort finden.
    Und vielleicht wollte er auch gerade das – sehen, daß es dort nichts zu finden gab. Das riesige L-förmige Gebäude lag leer und still da, ein gigantischer Glaskasten, den jemand hier leer liegen gelassen hatte. Der Tag war immer noch grau und naß, die Luft so feucht wie Schwamm und der Strand öde und verlassen. Er ging den Strand entlang. Nasser Sand knirschte unter seinen Schuhen. Der Nebel kondensierte sich zu Tröpfchen in seinem Haar, auf seiner Oberlippe. So weit das Auge reichte, gab es nichts Lebendiges am Nordstrand von Shasine. Das Alte Meer sah flach und müde aus, als fühle es sich in dem Regen nicht wohl. Unruhig kräuselten sich die Wellen gegen den Strand, nur ein leises, seniles Murmeln in der Kehle des Meeres.
    Das Meer-Haus war von hier aus noch schwach zu erkennen, die Fensterfront glitzerte durch den Nebel, und als Farber vom Strand aus hinübersah, dachte er wieder an den Alàntene, die unermüdlichen Tänzer, die genau an der Stelle, an der er jetzt stand, den Boden gestampft hatten; dachte an Lirauns Erklärung, daß dieses Fest zur gleichen Zeit mit jedem Augenblick des Universums koexistierte. War er hier, der Alàntene, hier irgendwo hinter dem Nieselregen, dem Nebel und der Leere? Koexistent – Liraun irgendwo hier, Farber selbst, die leidenschaftlichen Tänzer am Meer, durchdrangen sie ihn genau in diesem Moment, fuhren durch ihn hindurch wie Geisterschiffe auf dem Weg zu insubstanziellen Meeren? Er lauschte den nassen, mürrischen ›Vögeln‹, die ihre schlechte Laune durch den Nebel schrien, und fühlte, wie seine Füße tiefer in den kiesigen Sand einsanken, und er schüttelte den Kopf: nein. Hier war für ihn nichts mehr zu finden. Wenn überhaupt etwas hier war, dann nicht für ihn – oder wenn doch, dann gab es niemanden mehr, der ihn hätte hinbringen können, der Führer war verschwunden, nicht da, würde nicht mehr kommen. Nicht zu ihm.
    Er fühlte sich getäuscht und bestohlen, aber auch angenehm verdrießlich darüber, als er

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