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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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schließlich weiter den Strand entlangging, hatte er doch hier den Grund für seine schlechte Laune endlich vor sich.
    Der Himmel riß auf, als Farber über den Weg des Dritten-toten-Ahnen in den Winterkind-Bezirk ging. Ein scharfer Wind war aus dem Osten aufgekommen und trieb flusige, blaue Wolken wie Kätzchen über den Himmel, der noch kalt und feucht aussah. Feuerfrau, die Sonne von Weinunnach, spähte blaß durch die fliegenden schwarzen Schatten, die langgezogen und fahl wirkten. Selbst Farbers brennende Verzweiflung war inzwischen zu einer dumpfen geistigen Erschöpfung geworden, wie eine auf den Boden eines Aquariums gesunkene Schnecke. Sooft er an diesem Nachmittag den Hügel von Winterkind nach Brundane hinauftrottete, nahm er pflichtschuldig die Sensi-Krone heraus, setzte sie auf und sah sich nach einer geeigneten Szene um. Er hatte sich schließlich doch an den ursprünglichen Zweck dieses durchweichten, miserablen Spazierganges erinnert. Aber nach der von Leidenschaften und Geheimnissen erfüllten Alàntene -Nacht, die gerade hinter ihm lag, nach den emotionalen und physischen Stürmen, erschien ihm der Tag unwirklich: flach, substanzlos, stumpf, die Farben weniger bunt als sonst, die Szenerie von Aei weniger aufregend und selbst die Luft schal.
    In schwarze Melancholie eingehüllt wie eine Elster in nasse schwarze Federn, durchnäßt und übellaunig, kam Farber gegen Ende des Tages zurück in die Enklave. Er ging durch die Tore, an den Büros vorbei, den Steinstreifen entlang, der das Fundament von Farbers Apartment-Haus begrenzte, und sie war da, eine kleine Frau, die geduldig im Schatten wartete, still wie ein Zaunpfahl.
    »Liraun«, sagte er in beinahe dümmlichem Erstaunen, fühlte dabei Glück und etwas anderes – Furcht? – mit einem metallischen Geschmack in seiner Kehle aufsteigen.
    Sie sagte nichts. Ihre Augen glitzerten in der Dunkelheit wie Perlen, und sie blickte ihn ruhig an.
    »Ich wußte nicht, ob ich dich wiedersehen würde«, sagte er schließlich unbeholfen.
    »Ich auch nicht«, sagte sie. Sie war ruhig, rätselhaft, ohne jedes Lächeln. »Das Volk Unter Dem Meer entscheidet über diese Dinge, die kleinen Dinge, Geburten, Tode, Freuden …« Sie lächelte. »Wie Kleider weben sie unsere Leben, und wer sind wir, daß wir wissen können, was sie uns hineinweben?«
    Dann kam sie zu ihm, über die Steine, durch das sterbende Licht, und sie berührten sich, drehten sich, stießen aneinander wie fallende Blätter.

 
4
     
    In den folgenden Tagen sahen sie sich regelmäßig. Doch selbst nachdem er eine, dann zwei Wochen ihr Liebhaber war, wußte er so gut wie nichts über sie. Sie zeigte durchaus Bereitschaft, über ihr Volk und ihre Gesellschaft zu sprechen, aber nur solange sich das Gespräch auf einer ganz allgemeinen und theoretischen Ebene bewegte. Manchmal unterhielten sie sich sogar über Philosophie, aber nur in sehr begrenztem Umfang, und alle tiefergehenden Einzelheiten des cianischen Lebens waren tabu. Auch über sich selbst verlor sie kein Wort. Er wußte nicht, was sie den Tag über machte, wenn sie sich am Morgen von ihm verabschiedet hatte, wohin sie ging oder warum. Noch immer wußte er nicht einmal, wo sie wohnte – sie nahm ihn niemals mit zu sich, und in ihrem Verhalten lag etwas, das ihn davon abhielt, sie nach ihrem Zuhause zu fragen. Immer verließ sie ihn beim Morgengrauen wie das verzauberte Mädchen aus dem Märchen.
    Aber immer kehrte sie zu ihm zurück. Manchmal kam sie spät in der Nacht zu seinem Apartment, schwebte stumm wie ein Gespenst, das ein Windhauch fortwehen mochte, wie eine körperlose Inkarnation der Nacht selbst, vor seiner Tür, bis er sie sanft hereinzog, wo sie vom Licht wieder Fleisch, Leben, Wärme und Substanz erhielt. Manchmal traf sie ihn am späten Nachmittag, und sie spazierten in der langen Dämmerung hinunter nach Aei, während Feuerfrau schmerzhaft langsam hinter den kahlen westlichen Hügeln versank.
    Einer unausgesprochenen Übereinkunft gemäß führten sie diese Wanderungen nur in die Neustadt. Die aufragenden, drohenden Steintürme der Altstadt von Aei mieden sie, obwohl die monolithische Skyline und manchmal die langen, kalten Schatten den Horizont beherrschten, wohin sie sich in der Neustadt auch wandten. Von Zeit zu Zeit erwachte in Farber touristisches Interesse, das seine Schritte in Richtung der Altstadt lenkte, aber irgendwie gelang es Liraun immer rechtzeitig, ihm ihre Abneigung gegen einen Besuch dort zu übermitteln –

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