Fremde Blicke
drinnen brennt Licht. Man kann von draußen hineinschauen, die drinnen sehen draußen aber nichts.
»Johnas ist immer ein bißchen sauer, wenn wir hier durchgehen«, sagte Torbj0rn plötzlich. »Hat dieses Gerenne so dicht an seinem Haus satt, sagt er. Aber jetzt zieht er ja aus.«
»Alle, die zum Schulbus wollen, nehmen also diese Abkürzung?«
»Ja, alle.«
Sejer nickte Torbj0rn zu und drehte sich zu Skarre um. »Mir ist etwas eingefallen, das Holland gesagt hat, als er bei uns war. An dem Tag, an dem Eskil starb, ist Annie früher aus der Schule nach Hause gekommen, weil sie sich nicht wohl fühlte. Sie hat sich gleich ins Bett gelegt. Er mußte zu ihr gehen, um ihr von dem Unglück zu erzählen.«
»Wieso nicht wohl fühlte?« fragte Skarre. »Sie war doch nie krank.«
»>Unpäßlich< eben.«
»Du glaubst, sie hat etwas gesehen, nicht wahr? Durchs Küchenfenster.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Aber warum hat sie nichts gesagt?«
»Vielleicht hat sie sich nicht getraut. Oder sie hat nicht ganz begriffen, was sie da gesehen hat. Vielleicht hat sie sich Halvor anvertraut. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, daß er mehr weiß, als er zugeben mag.«
»Konrad«, sagte Skarre leise, »das hätte er doch gesagt.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Er ist ein komischer Vogel. Wir sollten noch einmal mit ihm reden.«
In diesem Moment meldete sich sein Europieper, und er ging
zum Auto und wählte sofort die angegebene Nummer.
Holthemann meldete sich.
»Axel Bj0rk hat sich mit einem alten Enfield-Revolver eine Kugel in die Schläfe geschossen.«
Sejer mußte sich auf den Wagen stützen. Diese Nachricht schmeckte wie bittere Medizin. Und sie hinterließ eine unangenehme Trockenheit in seinem Mund.
»Habt ihr irgendeinen Brief gefunden?«
»Er hatte keinen bei sich. Jetzt wird seine Wohnung
durchsucht. Der Bursche hatte doch offenbar ein schlechtes
Gewissen, oder was meinst du?«
»Keine Ahnung. Es kann so viele Gründe geben. Er hatte Probleme.«
»Er war unberechenbar und alkoholisiert. Und er hatte allerlei gegen Ada Holland, und das mit gutem Grund.«
»Er war vor allem unglücklich.«
»Haß und Verzweiflung können sich durchaus ähnlich sehen. Und wir zeigen das, was gerade am besten paßt.«
»Ich glaube, du irrst dich. Er hatte schon aufgegeben.
Vielleicht hat er deshalb mit allem Schluß gemacht.«
»Vielleicht wollte er Ada mitnehmen?«
Sejer schüttelte den Kopf und blickte zum Haus der Familie Holland hinüber. »Das hätte er S0lvi und Eddie nicht angetan.« »Willst du einen Täter haben oder willst du keinen?«
»Ich will den richtigen.« Er sah Skarre an, wollte das Gespräch beenden. »Axel Bj0rk ist tot. Ich frage mich, wie Ada Holland jetzt zumute ist. Vielleicht wie Halvor nach dem Tod seines Vaters. Sie denkt, daß das >schon in Ordnung< ist.«
Halvor fuhr hoch. Der Stuhl kippte um, er ging zum Fenster. Starrte auf den öden Hof hinaus. Lange blieb er in dieser Haltung stehen. Aus dem Augenwinkel sah er den umgekippten Stuhl und Annies Foto auf seinem Nachttisch. So war die Sache also. Das alles hatte Annie gesehen. Er setzte sich wieder vor den Bildschirm und las noch einmal alles vom Anfang bis zum Ende. In Annies Text stand auch seine eigene Geschichte, die er ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Der wütende Vater, der Schuß im Schuppen am 13. Dezember. Es hatte nichts mit dieser Sache zu tun, er holte tief Luft, markierte den Abschnitt und löschte ihn für immer und ewig. Danach schob er eine Diskette ein und kopierte Annies Text. Am Ende ging er leise aus seinem Zimmer und durch die Küche.
»Was ist los, Halvor?« rief seine Großmutter, als er durchs Wohnzimmer ging und dabei seine Jeansjacke anzog. »Gehst du weg?«
Er gab keine Antwort. Er hörte ihre Stimme, der Sinn ihrer Worte aber drang nicht bis zu ihm durch.
»Wo gehst du hin? Willst du ins Kino?«
Halvor knöpfte seine Jacke zu und dachte an sein Motorrad, ob das wohl anspringen würde. Wenn nicht, würde er den Bus nehmen müssen, und dann würde er eine Stunde unterwegs sein. Diese Stunde hatte er nicht, er mußte schnell an sein Ziel gelangen.
»Wann kommst du denn zurück? Bist du zum Abendessen wieder hier?«
»Ich muß jemanden treffen.«
»Aber wen? Du bist so blaß, stimmt vielleicht dein Blutdruck nicht? Wann warst du eigentlich zuletzt beim Arzt, das weißt du sicher selber nicht
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