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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Zeit gestohlen. Mach jetzt, daß du verschwindest.«
    Halvor hielt inne und blickte geradezu verletzt zu Johnas auf. »Ich bin noch nicht fertig. Ich habe noch mehr.« Er wühlte weiter in seiner Brieftasche herum.
    »Hast du nicht. Du wohnst mit deiner Großmutter in einer alten Bruchbude und fährst Speiseeis aus.
    Vierundvierzigtausend«, sagte Johnas mit scharfer Stimme. »Die blätterst du jetzt hin, oder ...«
    »Du weißt also, wo ich wohne?«
    Halvor sah ihn an. Die Sache wurde gefährlich, aber er hatte keine Angst, aus irgendeinem Grund hatte er keine Angst.
    »Ich habe das hier«, sagte er plötzlich und zog etwas aus dem Fach für die Geldscheine.
    Johnas starrte mißtrauisch Halvor und den Gegenstand an, den dieser mit zwei Fingern hochhielt.
    »Das ist eine Diskette«, erklärte Halvor.
    »Ich will keine Diskette, ich will vierundvierzigtausend«, fauchte Johnas und spürte, wie sich in seiner Brust Entsetzen breit machte.
    »Annies Tagebuch«, sagte Halvor und schwenkte die Diskette. »Sie hat vor einiger Zeit damit angefangen. Im November, genauer gesagt. Wir haben danach gesucht, ich war nicht der einzige. Du weißt ja, wie Mädchen sind. Die müssen sich immer irgendwem anvertrauen!«
    Johnas atmete schwer. Sein Blick traf Halvor wie ein Messerstich.
    »Ich habe es gelesen«, sagte Halvor. »Es handelt von dir.«
    »Her damit!«
    »Erst wenn die Hölle gefriert.«
    Johnas fuhr zusammen. Halvors Stimme war plötzlich tiefer geworden. Ein böser Geist schien durch den Mund eines Kindes zu sprechen.
    »Ich habe Kopien gemacht«, sagte Halvor. »Also kann ich so viele Teppiche kaufen, wie ich will. Immer, wenn ich mir einen neuen Teppich wünsche, mache ich einfach noch eine Kopie. Klar?«
    »Du bist ein hysterischer Rotzbengel! Aus was für einer Anstalt bist du eigentlich entlaufen?«
    Johnas nahm Anlauf, und Halvor sah für den Bruchteil einer Sekunde, wie sein Oberkörper anschwoll und sich zum Sprung sammelte. Johnas wog vielleicht zwanzig Kilo mehr als er und war außer sich vor Wut. Halvor sprang beiseite, Johnas verfehlte ihn, rutschte über den Steinboden und stieß krachend mit dem Kopf gegen den Klapptisch. Die Münzen fielen klirrend hinunter. Der Sturz entlockte Johnas die übelsten Flüche, die Halvor je gehört hatte, selbst wenn er das grenzenlose Vokabular seines Vaters berücksichtigte. Ein einziger Blick in das düstere Gesicht machte Halvor klar, daß die Schlacht verloren war. Johnas war soviel größer. Halvor stürzte zur Treppe, aber Johnas nahm schon wieder Anlauf, machte drei oder vier lange Schritte und stürzte los. Er traf Halvor an der Schulter. Instinktiv hob er den Kopf, während sein Rumpf mit voller Wucht auf den Steinboden prallte.
    »Faß mich nicht an, verdammt noch mal!«
    Johnas drehte ihn um. Halvor spürte seinen Atem im Gesicht, während Johnas’ Fäuste sich um seinen Hals schlossen.
    »Du tickst doch nicht mehr richtig«, würgte er hervor. »Du bist erledigt. Mir ist’s egal, was du mit mir machst, du bist auf jeden Fall erledigt.«
    Johnas war blind und taub. Er hob die Faust und zielte auf das schmale Gesicht. Halvor hatte schon häufig Prügel bezogen und wußte, was ihn erwartete. Die Faust traf ihn unter dem Kinn und sein schmaler Kiefer brach wie ein trockener Zweig. Die unteren Zähne trafen mit wilder Wucht gegen die Zähne des Oberkiefers, winzige Porzellansplitter mischten sich unter das Blut, das aus seinem Mund schoß. Johnas schlug weiter auf ihn ein, er zielte nicht mehr, sondern traf wahllos, während Halvor auszuweichen versuchte. Schließlich schlug er mit den Fingerknöcheln auf den Steinboden und schrie auf. Er rappelte sich hoch und starrte seine Hand an. Danach keuchte er vor Anstrengung. Eine Blutlache bedeckte den Boden. Er starrte das an, was daneben lag, und holte tief und inbrünstig Luft. Zwei Minuten später schlug sein Herz wieder in normalem Takt, und seine Gedanken wurden klarer.
    »Der ist nicht da«, sagte die Großmutter verwirrt, als Sejer und Skarre in der Tür standen und nach Halvor fragten. »Der wollte jemanden besuchen. Ich glaube, einen gewissen Johnas. Er war sehr aufgeregt und gegessen hat er auch nichts. Ich weiß mir wirklich keinen Rat mehr, und außerdem bin ich zu alt, um mich um alles zu kümmern.«
    Bei dieser Auskunft schlug Sejer zweimal mit der Faust gegen den Türrahmen.
    »Hat ihn jemand angerufen, oder was ist passiert?«
    »Hier ruft niemand an. Annie war die einzige. Er hat den ganzen Nachmittag in

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