Fremde Blicke
das leere Bett ist nur ein Aspekt. Ich bin morgens aufgestanden und ins Badezimmer gegangen, und da stand seine Zahnbürste unter dem Spiegel. So eine, die sich verfärbt, wenn sie warm wird. Das Badeentchen auf dem Wannenrand. Seine
Pantoffeln unter dem Bett. Ich habe mich dabei ertappt, daß ich den Tisch für einen zuviel gedeckt habe, und das tagelang. Im Auto lagen Schmusetiere, die er dort vergessen hatte. Und Monate später habe ich unter dem Sofa einen Schnuller gefunden.«
Johnas sprach mit zusammengebissenen Zähnen, als rücke er nur widerwillig etwas heraus, auf das seine Besucher keinen Anspruch hatten.
»Ich habe alles weggeräumt, Stück für Stück, und es kam mir vor wie ein Verbrechen. Es war eine Qual, jeden Tag seine Sachen zu sehen, es war grauenhaft, sie wegzupacken. Es hat mich jede Sekunde des Tages verfolgt, und das ist noch immer so. Wissen Sie, wie lange der Geruch eines Menschen in einem Baumwollschlafanzug haften bleibt?«
Er verstummte, und sein braunes Gesicht war jetzt grau. Sejer schwieg. Er dachte plötzlich an Elises Holzschuhe, die immer vor der Tür gestanden hatten. Damit sie schnell hineinschlüpfen konnte, wenn sie Müll zum Abfallschacht bringen oder die Polizei holen wollte. Die Tür zu öffnen, die weißen Schuhe hochzuheben und sie in die Wohnung zu stellen, das war eine Erinnerung, die ihn mit einem scharfen Schmerz erfüllte.
»Wir waren vor kurzem auf dem Friedhof«, sagte er leise. »Waren Sie schon länger nicht mehr dort?«
»Was ist das für eine Frage?« erwiderte Johnas mit brüchiger Stimme.
»Ich möchte nur wissen, ob Ihnen bekannt ist, daß etwas vom Grab entfernt worden ist.«
»Sie meinen den kleinen Vogel? Ja, der ist kurz nach der Beerdigung verschwunden.«
»Haben Sie daran gedacht, einen neuen anzuschaffen?«
»Was Sie aber auch alles wissen wollen! Ja, ich habe mir das natürlich überlegt. Aber ich hätte das nicht noch einmal ertragen, und deshalb habe ich darauf verzichtet.«
»Aber Sie wissen, wer ihn weggenommen hat?« »Natürlich nicht!« sagte Johnas plötzlich mit scharfer Stimme. »Dann hätte ich es sofort angezeigt, und wenn es in meiner Macht gestanden hätte, dann hätte der Dieb etwas erleben können.«
»Sie hätten eine Strafpredigt gehalten?«
Johnas lächelte säuerlich. »Nein, ich hätte keine Strafpredigt gehalten.«
»Es war Annie«, sagte Sejer gelassen.
Johnas riß die Augen auf.
»Wir haben ihn bei ihren Sachen gefunden. Das ist doch der Vogel?«
Er steckte die Hand in die Tasche und zog den Vogel hervor. Johnas nahm ihn mit zitternden Fingern entgegen. »Sieht so aus wie der, den ich gekauft hatte. Aber warum .?«
»Das wissen wir nicht. Wir dachten, Sie könnten uns das vielleicht sagen.«
»Ich? Herrgott, ich habe keine Ahnung! Ich verstehe das nicht. Warum in aller Welt hat sie ihn gestohlen? Sie war nicht gerade eine Diebin, die Annie, die ich gekannt habe.«
»Deshalb muß sie einen Grund gehabt haben. Der nichts mit Lust am Stehlen zu tun gehabt hat. War sie aus irgendeinem Grund böse auf Sie?«
Johnas starrte stumm vor Überraschung den Vogel an.
Das hat er nicht gewußt, dachte Sejer und sah zu Skarre hinüber. Skarres glasblaue Augen registrierten noch die leichteste Bewegung seines Gegenübers.
»Wissen ihre Eltern, daß sie ihn hatte?« fragte Johnas schließlich.
»Das glauben wir nicht.«
»Und es war nicht S0lvi? S0lvi ist schließlich nicht ohne. Genau wie eine Elster, schnappt sich alles, was funkelt.«
»Es war nicht Solvi.«
Sejer hob das Glas am Stiel hoch und trank einen Schluck Traubensaft. Er schmeckte wie dünner Wein.
»Na, sie hatte wohl ihre Geheimnisse«, sagte Johnas mit einem Lächeln. »Die haben wir schließlich alle. Sie war ja auch ein bißchen geheimniskrämerisch. Vor allem, als sie älter wurde.«
»Die Sache mit Eskil hat sie sehr schwer genommen, nicht wahr?«
»Sie konnte nicht mehr zu uns kommen. Ich verstehe das, ich konnte auch lange Zeit keine Menschen ertragen. Und Astrid und Magne sind ausgezogen, es passierte soviel auf einmal. Ein unbeschreibliches Kapitel«, murmelte er und wurde blaß bei dieser Erinnerung.
»Aber Sie haben sicher miteinander gesprochen?«
»Wir haben uns nur zugenickt, wenn wir uns auf der Straße begegnet sind. Wir waren doch fast Nachbarn.«
»Und hatten Sie den Eindruck, daß sie Ihnen auswich?«
»Sie war irgendwie verlegen. Es war für uns alle schwer.«
»Und dazukommt«, sagte Sejer, als sei ihm das aus purem Zufall
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