Fremde Blicke
eingefallen, »daß Sie kurz vor seinem Tod mit Eskil aneinandergeraten sind. Das hat es für Sie sicher besonders schwergemacht.«
»Jetzt lassen Sie endlich Eskil aus dem Spiel«, fauchte Johnas.
»Kennen Sie Raymond Lake?«
»Sie meinen diesen Sonderling, der oben bei der Kuppe wohnt?«
»Ich habe gefragt, ob Sie ihn kennen.«
»Alle wissen, wer Raymond ist.«
»Ja oder nein?«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Aber Sie wissen, wo er wohnt?«
»Ja, das weiß ich. In dieser alten Bruchbude. Scheint ihm gut genug zu sein, jedenfalls sieht er idiotisch glücklich aus.«
»Idiotisch glücklich?« Sejer erhob sich und schob sein Glas zur Seite. »Ich glaube, Idioten sind ebenso wie wir anderen vom Wohlwollen anderer Menschen abhängig, um glücklich zu sein. Außerdem dürfen Sie eins nie vergessen: Obwohl er die Umwelt nicht so deuten kann, wie Sie das tun, ist mit seiner Sehfähigkeit alles in Ordnung.«
Johnas’ Gesicht schien zu erstarren. Er begleitete seine Besucher nicht zur Tür. Als sie die Treppe ins Erdgeschoß hinuntergingen, spürte Sejer die Kameralinse im Nacken wie einen Strahl.
Danach holten sie Kollberg aus Sejers Wohnung und ließen ihn auf dem Rücksitz liegen.
»Der Hund ist zuviel allein, sicher ist er deshalb so unmöglich«, sagte Sejer und gab Kollberg ein Stück Dörrfisch. »Findest du den Geruch schlimm?«
Skarre nickte. »Danach mußt du ihm ein Fisherman’s Friend geben.«
Sie fuhren in Richtung Lundeby, bogen beim Kreisverkehr ab und hielten bei den Briefkästen. Sejer ging durch die Straße, wohl wissend, daß in allen einundzwanzig Häusern jemand ihn sehen konnte. Alle würden annehmen, daß er zu Hollands wollte. Aber er blieb stehen und blickte sich um, sah zu Johnas’ Haus hinüber. Es sah halbleer aus, und hinter mehreren Fenstern waren die Vorhänge geschlossen. Langsam ging er wieder zurück.
»Der Schulbus fährt jeden Morgen um zehn nach sieben am Kreisverkehr los«, sagte er schließlich. »Jeden Morgen. Alle Kinder aus dem Krystall, die zur Schule gehen, fahren mit diesem Bus. Also müssen sie gegen sieben los, um ihn nicht zu verpassen.«
Ein leichter Wind wehte, aber auf seinem Kopf bewegte sich kein Haar.
»Magne Johnas war gerade weg, als Eskil das Essen im Hals steckengeblieben ist.«
Skarre wartete. Ein Bibelwort, das mit Geduld zu tun hatte, ging ihm durch den Kopf.
»Und Annie war ein bißchen später dran als die anderen. Holland weiß noch, daß sie verschlafen hatten. Sie ist an Johnas’
Haus vorbeigegangen, vielleicht gerade zu der Zeit, als Eskil beim Frühstück saß.«
»Ja. Und was weiter?« Skarre schaute zu Johnas’ Haus hinüber. »Nur Wohnzimmer- und Schlafzimmerfenster gehen zur Straße raus. Und Eskil saß in der Küche.«
»Das weiß ich, das weiß ich«, sagte Sejer gereizt. Sie gingen weiter, näherten sich dem Haus und versuchten, sich diesen Tag vorzustellen, den 7. November, morgens früh um sieben. Im November ist es dunkel, dachte Sejer.
»Kann sie im Haus gewesen sein?«
»Keine Ahnung.«
Sie blieben stehen, starrten eine Zeitlang das Haus an, jetzt aus nächster Nähe. Das Küchenfenster befand sich in einer Querwand und schaute zum Nachbarhaus hinüber.
»Wer wohnt in dem roten Haus?« fragte Skarre.
»Irmak. Mit Frau und Kindern. Aber gibt es da nicht einen Weg? Zwischen den Häusern?«
Skarre nickte. »Doch. Und da kommt jemand.«
Plötzlich tauchte zwischen den beiden Häusern ein Junge auf. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte die beiden Männer noch nicht entdeckt.
»Torbj0rn Haugen. Der, der die Suche nach Ragnhild geleitet hat.«
Sejer wartete auf Torbj0rn, der lange Schritte machte. Er trug eine schwarze Tasche über der Schulter, um die Stirn hatte er dasselbe bunte Tuch gebunden wie zuletzt. Sie beobachteten sorgfältig, als er an Johnas’ Haus vorüberging. Torbj0rn war groß und reichte bis zur Mitte des Küchenfensters.
»Du gehst eine Abkürzung?« fragte Sejer.
»Ja?« Torbj0rn blieb stehen. »Dieser Weg führt direkt zum Gneisvei hinunter.«
»Nehmen die anderen auch diesen Weg?«
»Sicher, da sparen wir fast fünf Minuten.«
Sejer machte einige Schritte über den Weg und blieb vor dem
Fenster stehen. Er war größer als Torbj0rn und konnte problemlos in die Küche sehen. Dort stand kein Kindersitz mehr, es gab nur zwei normale Holzstühle. Auf dem Tisch standen ein Aschenbecher und eine Kaffeetasse. Ansonsten wirkte der Raum fast unbewohnt. Der 7. November, dachte er. Draußen pechschwarz,
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