Fremde Blicke
Seeschlange?«
»Hier im Fjord gibt es angeblich eine. Es ist eine Sage, eine alte Geschichte. Wenn Sie mit dem Ruderboot unterwegs sind und hinter sich ein Rauschen hören, dann kommt die
Seeschlange aus der Tiefe empor. Sie dürfen sich dann nicht umdrehen, sondern müssen vorsichtig weiterrudern. Wenn Sie sich nichts anmerken lassen und die Schlange nicht beachten, passiert Ihnen nichts, aber wenn Sie sich umdrehen und ihr in die Augen schauen, dann zieht Sie sie in die tiefe Finsternis hinab. Der Sage nach hat sie rote Augen.«
»Gehen wir wieder ins Wohnzimmer.«
Skarre schrieb noch immer. Herr Holland saß nach wie vor auf der Armlehne, es sah aus, als würde er über die Kante quellen.
»Und Ihre andere Tochter?«
»Sie kommt heute mit dem Vormittagsflugzeug. Sie ist in Trondheim bei meiner Schwester.«
Frau Holland ließ sich wieder aufs Sofa fallen und lehnte sich an ihren Mann. Sejer ging zum Fenster und schaute hinaus. Er starrte in ein Gesicht hinter dem Küchenfenster gegenüber.
»Sie wohnen hier sehr dicht beieinander«, stellte er fest. »Und kennen sich denn alle gut?«
»Ziemlich gut. Jeder redet mit jedem.«
»Und alle haben Annie gekannt?«
Sie nickte stumm.
»Wir werden von Haus zu Haus gehen. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus.«
»Wir haben keinen Grund, uns zu schämen.«
»Können Sie uns einige Bilder besorgen?«
Der Vater stand auf und ging zum Fernseher hinüber. »Wir haben ein Video«, sagte er und zog eine Kassette hervor. »Vom letzten Sommer. Wir haben ein Ferienhaus in Krager0.«
»Die brauchen kein Video«, sagte die Mutter müde, »sondern nur ein Foto.«
»Ich nehme das Video gern.«
Sejer nahm es und bedankte sich.
»Mehrere Dutzend Kilometer pro Woche?« fragte er dann. »Ist sie allein gelaufen?«
»Niemand hat das Tempo durchgehalten«, sagte der Vater.
»Sie hat sich also trotz der Arbeit für die Schule Zeit zum Laufen genommen. Dann hat sie vielleicht doch nicht aus Zeitgründen mit dem Handball aufgehört?«
»Laufen konnte sie doch, wann sie wollte«, sagte die Mutter. »Manchmal hat sie das vor dem Frühstück gemacht. Aber beim Handball mußte sie zu festgesetzten Terminen erscheinen. Ich glaube, sie wollte nicht gebunden sein. Annie war sehr selbständig.«
»Wo ist sie gelaufen?«
»Überall. Bei jedem Wetter. An der Hauptstraße, durch den Wald.«
»Und zum Schlangenweiher?«
»Ja.«
»War sie unruhig?«
»Sie war still und ruhig«, sagte die Mutter leise.
Sejer ging wieder zum Fenster und erblickte eine Frau, die über die Straße eilte. Auf ihrem Arm schaukelte ein kleiner Wicht mit Schnuller. »Andere Interessen? Abgesehen vom Laufen?«
»Filme und Musik und Bücher und so. Und kleine Kinder«, sagte der Vater.
»Vor allem, als sie noch jünger war.«
Sejer bat die Eltern, eine Liste über alle Personen aufzustellen, mit denen Annie zu tun gehabt hatte. Freunde, wenn es mehrere gegeben hatte. Als die Liste endlich fertig war, enthielt sie zweiundvierzig Namen mit mehr oder weniger vollständigen Adressen.
»Werden Sie mit all diesen Leuten sprechen?«
Diese Frage stammte von der Mutter.
»Ja. Und das ist erst der Anfang. Wir denken an Sie«, sagte Sejer abschließend.
»Wir müssen bei Torbj0rn Haugen vorbei. Dem Jungen, der gestern Ragnhild gesucht hat. Der kennt die Uhrzeit.«
Der Wagen glitt an den Garagen vorbei, Skarre las seine Notizen durch.
»Ich habe ihren Vater nach diesem Handballkram gefragt«, sagte er. »Als ihr in Annies Zimmer wart.«
»Ja?«
»Er sagt, Annie habe als vielversprechendes Talent gegolten. Ihr Team hatte eine Spitzensaison, sie waren sogar in Finnland und überhaupt. Er konnte einfach nicht begreifen, warum sie aufhören wollte. Und deshalb hat er sich gefragt, ob da etwas vorgefallen sein könnte.«
»Vielleicht sollen wir ihren Trainer oder ihre Trainerin fragen. Vielleicht bringt uns das weiter.«
»Es ist ein Trainer«, sagte Skarre. »Er hat wochenlang immer wieder angerufen, um ihr diesen Entschluß auszureden. Nach ihrem Ausstieg hatten sie große Probleme. Annie war einfach unersetzlich.«
»Wir rufen von der Wache aus an und erkundigen uns nach dem Namen.«
»Er heißt Knut Jensvoll und wohnt im Gneisvei acht. Gleich hier unten am Hang.«
»Vielen Dank«, sagte Sejer und zog die Augenbrauen hoch. »Mir ist da so ein Gedanke gekommen, daß Annie vielleicht umgebracht worden ist, während wir nur wenige Minuten von ihr entfernt im Granittvei saßen und uns um Ragnhild Sorgen
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