Fremde Blicke
machten. Ruf in der Pilestrede an. Laß dir Snorrason geben. Frag ihn, ob er die Sache nicht ein wenig beschleunigen kann, wir brauchen den Bericht so schnell wie möglich.«
Skarre griff nach dem Mobiltelefon.
»Ist als vier gespeichert.«
Skarre tippte auf die Vier, fragte nach Snorrason, wartete kurz und murmelte dann etwas.
»Was hat er gesagt?«
»Das Kühllager ist voll. Jeder Todesfall ist tragisch, egal welche Ursache, und eine ganze Reihe Menschen warten darauf, ihre Lieben unter die Erde bringen zu können. Aber er sieht den Ernst der Lage, und wenn du willst, kannst du dir in drei Tagen einen vorläufigen mündlichen Bericht erstatten lassen. Auf den schriftlichen mußt du noch länger warten.«
»Na ja«, murmelte Sejer. »Gar nicht schlecht für Snorrasons Verhältnisse.«
RAYMOND SCHMIERTE BUTTER auf eine hauchdünne Scheibe Knäckebrot. Er gab sich alle Mühe, damit sie nicht durchbrach, seine große Zunge lugte aus seinem Mund hervor. Jetzt hatte er vier Scheiben mit Zucker und Butter aufeinander liegen, sein Rekord waren sechs.
Die Küche war klein und recht gemütlich, aber nun war sie unordentlich, weil er sich mit seiner Mahlzeit solche Mühe gegeben hatte. Auch für seinen Vater hatte er ein Brot gemacht, Weißbrot ohne Kruste mit zerlassenem Speck aus der Bratpfanne. Nach dem Essen wollte er spülen und schließlich den Küchenboden fegen. Er hatte schon die Bettflasche seines Vaters geleert und seinen Wasserkrug gefüllt. An diesem Tag ließ die Sonne sich nicht sehen, alles war grau, die Landschaft draußen traurig und flach. Der Kaffee war dreimal aufgekocht, wie sich das gehörte. Raymond legte eine fünfte Scheibe auf die anderen und war ziemlich zufrieden. Er wollte gerade Kaffee in den Becher seines Vaters geben, als er einen Wagen vorfahren hörte. Zu seinem großen Entsetzen sah er, daß es ein Streifenwagen war. Er erstarrte, wich vom Fenster zurück und rannte in eine Wohnzimmerecke. Vielleicht wollten die ihn ja ins Gefängnis stecken. Und wer sollte sich dann um seinen Vater kümmern?
Auf dem Hof wurde mit Wagentüren geknallt, und er hörte Stimmen, wichtigtuerisches Gemurmel. Er war sich nicht sicher, ob er etwas angestellt hatte, aber so genau konnte man das nie wissen, fand er. Sicherheitshalber blieb er in seiner Ecke stehen, als an die Tür geklopft wurde. Die Besucher wollten aber nicht aufgeben, sie klopften und klopften und riefen seinen Namen. Vielleicht konnte sein Vater sie hören. Raymond hustete heftig los, um die Männer zu übertönen. Nach einer Weile wurde es draußen still. Er stand noch immer neben dem Kamin in der Ecke, als er hinter dem Fenster ein Gesicht sah. Es war ein großer grauhaariger Mann, der eine Hand hob und winkte. Damit will er mich bloß rauslocken, dachte Raymond und schüttelte energisch den Kopf. Er hielt sich am Kamin fest und drückte sich noch tiefer in die Ecke. Der Mann draußen sah nett aus, aber deshalb brauchte er noch lange nicht nett zu sein. Das wußte Raymond längst, er war ja schließlich nicht blöd. Nach einer Weile hielt er es in der Ecke nicht mehr aus und lief in die Küche, aber auch dort sah er hinter dem Fenster ein Gesicht. Dieser Mann hatte Locken und eine Uniform. Raymond kam sich vor wie ein Katzenjunges in einem Sack, und nun schloß sich über ihm das kalte Wasser. An diesem Tag war er nicht mit dem Auto unterwegs gewesen, das sprang noch immer nicht an, darum konnte es also nicht gehen. Also sind sie wegen dieser Sache oben am Weiher da, dachte er verzweifelt. Er wiegte sich ein Weilchen hin und her. Schließlich ging er auf den Flur und starrte ängstlich den im Schloß steckenden Schlüssel an.
»Raymond!« rief einer der beiden Fremden. »Wir wollen doch nur mit dir reden. Das ist nicht gefährlich!«
»Ich hab Ragnhild nichts getan!« rief Raymond.
»Das wissen wir. Deshalb sind wir auch nicht gekommen. Aber wir brauchen deine Hilfe.«
Er zögerte noch ein wenig, dann machte er endlich die Tür auf.
»Dürfen wir reinkommen?« fragte der Größere von beiden. »Wir wollen dich nur schnell etwas fragen.«
»Sicher. Ich wußte bloß nicht, wer ihr seid. Ich kann doch nicht jedem die Tür aufmachen!«
»Nein, das kannst du nicht«, sagte Sejer und schaute ihn neugierig an. »Aber bei der Polizei ist das in Ordnung.«
»Setzen wir uns ins Wohnzimmer.«
Raymond ging voran und zeigte auf das Sofa, das seltsam selbstgetischlert aussah. Auf dem Sitz lag eine alte karierte Decke. Sie setzten sich und
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