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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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ließ sich im Sessel zurücksinken. »Aber ich versuche herauszufinden, warum sie gestorben ist.«
    Die Mutter zitterte jetzt so heftig, daß ihre Antwort kaum zu verstehen war. »Warum sie gestorben ist? Weil irgendein ...« Sie brachte das Wort nicht über die Lippen.
    »Das wissen wir nicht.«
    »Aber wurde sie .« Sie brach wieder ab.
    »Das wissen wir nicht, Frau Holland. Noch nicht. Das braucht Zeit. Aber die, die sich jetzt um Annie kümmern, wissen, was sie zu tun haben.«
    Er blickte sich im Zimmer um, es war sauber und ordentlich, blau und weiß wie Annies Kleider. Über den Türen waren Immortellenkränze befestigt, die Gardinen hatten Spitzen, an der Wand hingen kleine Salzteigkringel. Und Fotos. Häkeldeckchen. Aufeinander abgestimmt, ordentlich und anständig. Sejer erhob sich. Ging zu einem großen Foto an der Wand.
    »Das stammt aus dem letzten Winter.«
    Die Mutter folgte ihm. Er nahm das Bild vorsichtig von der Wand und starrte es an. Immer wieder staunte er, wenn er ein Gesicht wiedersah, daß er nur leb- und glanzlos kannte. Dieselbe Person und doch nicht dieselbe.
    Annie hatte ein breites Gesicht mit großem Mund und großen grauen Augen. Dichte dunkle Brauen. Sie lächelte zurückhaltend. Unten auf dem Bild sah er einen Blusenkragen und ein Stück vom Medaillon ihres Freundes. Hübsch, dachte er.
    »Hat sie Sport getrieben?«
    »Früher«, sagte der Vater leise.
    »Sie hat Handball gespielt«, erzählte die Mutter mit trauriger Stimme. »Aber dann hat sie aufgehört. Danach lief sie ziemlich viel. Jede Woche mehrere Dutzend Kilometer.«
    »Mehrere Dutzend? Aber warum hat sie den Handball aufgegeben?«
    »Die Schule hat zuviel Zeit in Anspruch genommen. Und Kinder sind eben so, sie probieren alles mögliche aus und hören dann wieder auf. Sie war auch eine Zeitlang in der Schulkapelle, hat Kornett gespielt. Aber auch das hat sie dann aufgegeben.«
    »War sie eine gute Handballspielerin?«
    Er hängte das Bild wieder auf.
    »Sehr gut«, sagte der Vater leise. »Sie war Torwart. Sie hätte nicht aufhören sollen.«
    »Ich glaube, sie fand es langweilig, im Tor zu stehen«, sagte die Mutter. »Ich glaube, das war der Grund.«
    »Das wissen wir nicht«, warf ihr Mann ein. »Uns hat sie nichts gesagt.«
    Sejer setzte sich wieder.
    »Sie haben darauf also reagiert? Und es - unverständlich gefunden?«
    »Ja.«
    »Ist sie in der Schule gut zurechtgekommen?«
    »Besser als die meisten anderen. Ich sage das nicht, um zu prahlen, es war einfach so«, sagte der Vater.
    »Diese Hausarbeit, an der die drei Mädchen arbeiteten, worum ging es da?«
    »Sigrid Undset. Sie sollte Ende Juni fertig sein.«
    »Darf ich mal ihr Zimmer sehen?«
    Frau Holland stand auf und ging mit kurzen, unsicheren Schritten vor ihm her. Ihr Mann blieb bewegungslos auf der Armlehne sitzen.
    Das Zimmer war winzig klein, aber offensichtlich Annies höchsteigener Schlupfwinkel. Es war gerade genug Platz für Bett, Schreibtisch und Stuhl. Sejer starrte aus dem Fenster zur Veranda der Nachbarn hinüber. Im orangefarbenen Haus. Reste einer alten Vogelgarbe ragten unter dem Fenster auf. Er suchte die Wände nach Idolen ab, fand aber keine. Dagegen gab es viele Pokale, Ehrenurkunden und Medaillen sowie zwei Bilder von Annie. Eines zeigte sie mit den Handballkameradinnen, Annie im Tor, auf dem anderen stand sie in guter Haltung auf einem Surfbrett. An der Wand über dem Bett hingen Bilder von kleinen Kindern - auf einem schob sie einen Kinderwagen -sowie ein Bild von einem jungen Mann. Sejer zeigte auf dieses Foto.
    »Ihr Freund?«
    Die Mutter nickte.
    »Hatte sie viel mit Kindern zu tun?«
    Er zeigte auf ein Bild, auf dem Annie einen blonden Knirps auf dem Schoß hatte. Sie hob den Jungen wie eine Trophäe der Kamera entgegen.
    »Sie hat oft die Kinder hier in der Straße gehütet.«
    »Sie hatte Kinder also gern?«
    Wieder nickte die Mutter.
    »Hat sie Tagebuch geführt, Frau Holland?«
    »Das glaube ich nicht. Ich habe danach gesucht«, gab sie zu. »Ich habe die ganze Nacht gesucht.«
    »Sie haben nichts gefunden?«
    Sie schüttelte den Kopf. Aus dem Wohnzimmer hörten sie leises Gemurmel.
    »Wir brauchen Namen«, sagte Sejer. »Von Leuten, mit denen wir sprechen sollten.«
    Er betrachtete wieder die Bilder an der Wand und sah sich Annies Handballtrikot genauer an, es war schwarz und hatte ein grünes Emblem.
    »Das sieht ja aus wie ein Drache oder so etwas?«
    »Das ist eine Seeschlange«, erklärte Frau Holland leise.
    »Warum eine

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