Fremde Blicke
betrachteten das Zimmer, einen ziemlich kleinen quadratischen Raum mit Sofa, Tisch und zwei Stühlen. An der Wand hingen Bilder von Tieren und das Foto einer älteren Frau mit einem Kind auf dem Schoß. Vermutlich war das seine Mutter. Das Kind wies deutliche mongoloide Züge auf, vielleicht hatte das Alter seiner Mutter Raymonds Schicksal entschieden. Ein Fernseher war nicht zu sehen, ebensowenig ein Telefon. Sejer konnte sich nicht erinnern, vor wie vielen Jahren er zuletzt ein Wohnzimmer ohne Fernseher gesehen hatte.
»Ist dein Vater zu Hause?« fragte er und betrachtete Raymonds T-Shirt. Es war weiß und zeigte den Aufdruck: HIER BESTIMME ICH!
»Der liegt im Bett. Er steht nicht mehr auf, er kann nicht gehen.«
»Und du kümmerst dich um ihn?«
»Ich koche und räume auf, das kann ich dir sagen!«
»Da hat dein Vater aber ziemliches Glück!«
Raymond lächelte das bezaubernde breite Lächeln eines Menschen mit Down-Syndrom. Ein unschuldiges Kind in einem riesigen Körper. Er hatte kräftige breite Fäuste mit ungewöhnlich kurzen Fingern und kantige, wuchtige Schultern.
»Du warst gestern so lieb zu Ragnhild und hast sie nach Hause gebracht«, sagte Sejer vorsichtig. »Sie brauchte also nicht allein zu gehen. Das war nett von dir.«
»Sie ist ja noch so klein«, sagte Raymond erwachsen.
»Das stimmt. Da war es ja gut, daß sie mit dir gehen konnte und daß du ihr mit dem Puppenwagen geholfen hast. Aber zu Hause hat sie dann etwas erzählt, und danach wollten wir dich fragen, Raymond. Ich meine das, was ihr beim Schlangenweiher am Ufer gesehen habt.«
Raymond starrte ihn besorgt an und schob die Unterlippe vor.
»Ihr habt ein Mädchen gesehen, nicht?«
»Ich war das nicht!« erklärte Raymond mit schroffer Stimme.
»Das glauben wir auch nicht. Deshalb sind wir nicht gekommen. Aber ich will dich etwas anderes fragen. Ich sehe, du hast eine Uhr?«
»Ja, ich habe eine Uhr.« Er zeigte ihnen seine Armbanduhr. »Papas alte.«
»Schaust du oft nach, wie spät es ist?«
»Nein, fast nie.«
»Warum denn nicht?«
»Bei der Arbeit paßt der Chef auf die Zeit auf. Und hier zu Hause macht Papa das.«
»Warum arbeitest du heute nicht?«
»Ich habe eine Woche frei und arbeite eine Woche.«
»Aha. Kannst du mir sagen, wie spät es jetzt ist?«
Raymond schaute auf die Uhr. »Es ist - etwas später als zehn nach elf.«
»Stimmt. Du schaust also nicht oft hin?«
»Nur, wenn es sein muß.«
Sejer nickte und warf einen Blick zum eifrig schreibenden Skarre hinüber.
»Hast du auf die Uhr geschaut, als du Ragnhild nach Hause gebracht hast? Oder zum Beispiel als ihr oben beim Schlangenweiher wart?«
»Nein.«
»Kannst du raten, wie spät es da wohl war?«
»Ich finde, du stellst ganz schön schwere Fragen«, sagte Raymond, der vom vielen Nachdenken schon müde war.
»Da hast du recht, es ist wirklich nicht leicht, sich an so vieles zu erinnern. Ich bin auch bald fertig. Hast du oben beim Weiher noch etwas anderes gesehen, ich meine, waren da Leute? Außer dem Mädchen?«
»Nein. Ist sie krank?« fragte Raymond mißtrauisch.
»Sie ist tot, Raymond.« »Die ist ja viel zu jung gestorben!«
»Das finden wir auch. Ist gestern irgendwann ein Auto hier am Haus vorbeigefahren? Und in welche Richtung? Oder hast du hier Leute gesehen? Als Ragnhild hier war zum Beispiel?«
»Hier wandern immer viele Leute. Gestern aber nicht. Da waren nur die hier, die hier wohnen. Die Straße hört bei der Kuppe auf.«
»Du hast also niemanden gesehen?«
Raymond dachte lange nach. »Doch, einen. Als wir losgegangen sind. Der heulte hier vorbei, der reinste Rennwagen.«
»Als ihr losgegangen seid?«
»Ja.«
»In welche Richtung ist der gefahren?«
»Abwärts.«
Hier vorbeigeheult, dachte Sejer. Aber was bedeutet das bei einem, der immer im zweiten Gang fährt?
»Hast du diesen Wagen gekannt? War das jemand, der hier oben wohnt?«
»Die fahren nicht so schnell.«
Sejer rechnete in Gedanken nach.
»Ragnhild war kurz vor zwei zu Hause, also war es vielleicht halb zwei? Ihr braucht doch von hier bis zum Weiher nicht so lange?«
»Nein.«
»Und der Wagen ist schnell gefahren, hast du gesagt?«
»Der hat ganz viel Staub aufgewirbelt. Aber es ist jetzt ja auch sehr trocken.«
»Was war das für ein Auto?«
Sejer hielt den Atem an. Eine Beschreibung des Autos wäre immerhin ein Anfang. Ein Auto in Tatortnähe, mit hohem Tempo, zu einem wichtigen Zeitpunkt.
»Ein ganz normales Auto«, sagte Raymond zufrieden.
»Ein
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