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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Lust?«
    »Lust auf einen Mordfall? Das ist doch das pure Weihnachtsgeschenk. Ich meine, eine große Herausforderung.
    Natürlich habe ich Lust.«
    Er wurde rot und eilte zum wütend klingelnden Telefon. Hörte zu, nickte und legte auf.
    »Das war Siven. Sie haben sie identifiziert. Annie Sofie Holland, geboren am 3. März 1980. Aber die Eltern können erst morgen vernommen werden, sagt sie.«
    »Ist Ringstad im Dienst?«
    »Eben gekommen.«
    »Dann mach, daß du nach Hause kommst. Morgen wird ein harter Tag. Ich nehme die Fotos mit«, fügte er hinzu.
    »Willst du die zu Hause im Bett studieren?«
    »Ja, das habe ich vor.« Sejer lächelte wehmütig. »Ich mag Bilder aus Papier lieber. Die kann ich danach in die Schublade stecken.«

KRYSTALL WAR WIE DER GRANITTVEI eine Sackgasse. Sie endete in einem dichten, undurchdringlichen Gestrüpp, in dem irgendwelche Umweltsünder im Schutze der Dunkelheit Müll abgeladen hatten. Die insgesamt einundzwanzig Häuser lagen dicht nebeneinander. Aus der Entfernung konnte man sie für Reihenhäuser halten, als Sejer und Skarre jedoch die Straße entlanggingen, entdeckten sie zwischen den Häusern schmale Durchgänge, gerade breit genug für eine Person. Die Häuser hatten drei Stockwerke, spitze Dächer und sahen sich überhaupt nicht ähnlich, sie erinnerten an den Hafen in Bergen, fand Sejer. Die Farben variierten, paßten aber zueinander, Tiefrot, Dunkelgrün, Braun und Grau. Eines hob sich von den anderen ab, es war orange.
    Vermutlich hatten mehrere Anwohner den Streifenwagen bei den Garagen und Skarres Uniform registriert. Bald würde die Bombe hochgehen. Die Stille schien elektrisch geladen zu sein.
    Ada und Eddie Holland wohnten in Nummer eins. Sejer konnte die Augen der Nachbarn im Nacken fast spüren, als er vor der Tür stehenblieb. In Nummer eins ist etwas passiert, dachten die anderen jetzt, im Haus von Hollands, wo die beiden Mädchen wohnen. Er versuchte, ruhig zu atmen, das, was ihm jetzt bevorstand, ließ seinen Atem schneller gehen. Es fiel ihm so schwer, daß er schon vor Jahren eine Reihe vorformulierter Bemerkungen zusammengestellt hatte, die er jetzt, nach langem Training, mit fester Stimme vortragen konnte.
    Annies Eltern hatten, seit sie in der letzten Nacht nach Hause gekommen waren, offenbar überhaupt nichts mitbekommen. Sie hatten auch nicht geschlafen. Der Schock in der Gerichtsmedizin war für sie wie ein helles Gongsignal, das noch immer in ihren Köpfen vibrierte. Die Mutter saß auf der Sofaecke, der Vater auf der Armlehne. Er schien wie betäubt. Die Frau hatte die Katastrophe noch nicht begriffen, sie blickte Sejer fast verständnislos an, so als könnte sie sich nicht vorstellen, was zwei Polizisten in ihrem Wohnzimmer zu suchen hatten. Das alles war doch ein Alptraum, und bald würde sie erwachen. Sejer mußte ihre Hand von ihrem Schoß heben.
    »Ich kann Ihnen Annie nicht zurückbringen«, sagte er leise. »Aber ich hoffe, daß wir feststellen werden, warum sie gestorben ist.«
    »Das Warum interessiert uns nicht«, rief die Mutter mit schriller Stimme. »Wichtig ist das Wer! Ihr müßt feststellen, wer es war, und dann müßt ihr ihn einsperren. Er ist doch krank!«
    Der Mann streichelte unbeholfen ihren Arm.
    »Wir wissen noch nicht«, sagte Sejer, »ob der Betreffende wirklich krank ist. Nicht alle Mörder sind krank.«
    »Normale Menschen bringen keine jungen Mädchen um, das meinen Sie doch nicht im Ernst!«
    Sie holte keuchend Luft. Der Mann verkrampfte sich.
    »Egal«, sagte Sejer vorsichtig. »Es gibt immer einen Grund. Wir können ihn nicht jedesmal verstehen, aber einen Grund gibt es immer. Als erstes müssen wir aber feststellen, ob sie tatsächlich umgebracht worden ist.«
    »Wenn Sie meinen, sie hätte Selbstmord begangen, dann irren
    Sie sich wirklich«, sagte die Mutter verbissen. »Das ist unmöglich. Nicht Annie.«
    Das sagen alle, dachte Sejer.
    »Ich muß Ihnen eine Reihe von Fragen stellen. Bitte antworten Sie, so gut Sie können. Wenn Sie später glauben, sich bei einer Antwort geirrt oder etwas vergessen zu haben, dann rufen Sie mich an. Oder wenn Ihnen noch etwas einfällt. Sie können mich rund um die Uhr erreichen.«
    Ada Hollands Blick irrte an Skarre und Sejer vorbei, so als horche sie weiterhin auf den vibrierenden Gong und wolle herausfinden, woher der Ton stammte.
    »Ich muß wissen, was sie für ein Mensch war. Beschreiben Sie sie, so gut Sie können.«
    Was ist das eigentlich für eine Frage, dachte er dabei,

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