Fremde Blicke
vorgekommen?«
»Überhaupt nicht. Sie war so wie immer.«
Sejer schaute sich im Zimmer um und registrierte, daß der Raum spärlich möbliert war, er wirkte noch unfertig. Aber es gab jede Menge Teppiche, auf dem Boden und an den Wänden, große Orientteppiche, die teuer aussahen. An der Wand hingen zwei Fotos, eins zeigte einen blonden Jungen von vielleicht zwei, das andere einen Teenager.
»Sind das Ihre Söhne?« Sejer zeigte auf die Bilder und wollte Konversation machen.
»Ja«, sagte Johnas. »Aber die Bilder sind nicht mehr aktuell.« Wieder streichelte er die schwarzen, seidenweichen Ohren und die feuchte Schnauze der Hündin. »Ich lebe jetzt allein«, fügte er hinzu. »Und endlich habe ich in der Stadt eine Wohnung gefunden, in der Oscarsgate. Dieses Haus hier ist zu groß für mich. In letzter Zeit habe ich Annie nicht oft gesehen. Es machte sie wohl verlegen, daß meine Frau mich verlassen hat. Und hier gab es ja auch keine Kinder mehr zu hüten.«
»Sie handeln also mit Orientteppichen?«
»Ich beziehe sie vor allem aus der Türkei und aus Pakistan. Ab und zu aus dem Iran, aber die neigen dazu, die Preise hochzuschrauben. Ich fahre zweimal im Jahr für einige Wochen hin. Lasse mir Zeit. Langsam kenne ich mich da unten aus«, erzählte Johnas zufrieden. »Habe inzwischen gute Verbindungen. Das ist nämlich das Wichtigste, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, meine ich. Sie haben mit dem Westen ziemlich gemischte Erfahrungen gemacht.«
Skarre zwängte sich am Tisch vorbei und ging zu einer Querwand, die fast ganz und gar von einem großen Teppich verdeckt war.
»Das ist ein türkischer Smyrna«, sagte Johnas. »Einer von meinen allerschönsten. Ich kann ihn mir im Grunde gar nicht leisten. Zweieinhalb Millionen Knoten. Ziemlich unvorstellbar, finden Sie nicht?«
Skarre betrachtete den Teppich. »Stimmt das, daß die von
Kindern hergestellt werden?«
»Oft ja, meine aber nicht. Das würde einem Händler den Ruf ruinieren. Aber ob uns das nun gefällt oder nicht, Tatsache ist, daß Kinder die schönsten Teppiche machen. Erwachsene haben zu dicke Finger.«
Eine Zeitlang starrten sie den Teppich an, die vielen ineinander verschlungenen geometrischen Figuren, immer neue, immer kleiner, in einer fast endlosen Menge von Farbtönen.
»Und werden die Kinder wirklich zum Arbeiten festgekettet?« fragte Sejer skeptisch.
Johnas schüttelte resigniert den Kopf. »Es klingt so schrecklich, wenn Sie das so ausdrücken. Wer als Knüpfer Arbeit findet, hat wirklich großes Glück gehabt. Ein guter Knüpfer hat Essen und Kleider und braucht nicht zu frieren. Er hat ein Leben. Wenn sie angekettet werden, dann nur, weil die Eltern darum gebeten haben. Oft ernährt so ein kleiner Knüpfer eine fünf- oder sechsköpfige Familie. Auf diese Weise kann er Mutter und Schwestern die Prostitution ersparen, und Vater und Brüder brauchen nicht zu Bettlern oder Dieben zu werden.«
»Ich habe gehört, daß das nur einen Aufschub bedeutet«, sagte Sejer. »Wenn sie erwachsen werden und dickere Finger haben, sind sie oft durch die anstrengende Arbeit blind oder kurzsichtig geworden. Und dann können sie überhaupt nicht mehr arbeiten und enden doch noch als Bettler.«
»Sie sehen zuviel fern.« Johnas lächelte. »Fahren Sie lieber hin und bilden Sie sich selber eine Meinung. Die Knüpfer sind zufriedene kleine Menschen, und sie genießen hohes Ansehen. So einfach ist das. Aber wir müssen den Reichen wohl ihre Moral lassen, niemand ist in dieser Hinsicht so empfindlich wie sie. Deshalb lasse ich auch die Finger von Produkten von Kindern. Wenn Sie einen Teppich brauchen, dann kommen Sie doch in die Cappelens gate«, sagte er eifrig. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie ein Schnäppchen machen.«
»Ich glaube, das ist nicht so ganz meine Preisklasse.«
»Warum ist der so fleckig?« fragte Skarre.
Johnas lächelte ein wenig über diese Unwissenheit, lebte gleichzeitig aber auf; die Möglichkeit, über seine große Leidenschaft sprechen zu können, wirkte wie ein Lufthauch in fast erloschener Glut. Er leuchtete auf. »Das ist ein Nomadenteppich.«
Das sagte Skarre nun wirklich gar nichts.
»Die Nomaden sind die ganze Zeit unterwegs, nicht wahr? Sie brauchen vielleicht ein Jahr für einen so großen Teppich. Die Wolle färben sie mit Pflanzen, die sie zu verschiedenen Jahreszeiten pflücken müssen, in unterschiedlichen Landschaften, mit unterschiedlichen Wachstumsbedingungen für die einzelne Pflanze. Dieses Blau
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