Fremde Blicke
Hausarbeit?« fragte Johnas erstaunt. »Nein, das hat sie nicht.«
»Aber sie hatte doch ihre Schultasche auf dem Rücken?«
»Ja, das schon. Aber vielleicht war das nur ein Vorwand, was weiß ich. Ich weiß nur, daß sie zum Laden wollte.«
»Erzählen Sie, was Sie gesehen haben.«
Johnas nickte. »Annie kam den steilen Hang beim Kreisverkehr heruntergelaufen. Ich habe bei der Bushaltestelle gestoppt. Gefragt, ob sie mitfahren wolle. Sie wollte doch nach Horgen, und das ist ein ziemliches Ende. Natürlich war sie nicht faul, Annie war bestens in Form. Sie ist dauernd gelaufen. Hatte bestimmt eine phantastische Kondition. Aber trotzdem ist sie eingestiegen, ich sollte sie beim Laden absetzen. Ich dachte, sie wollte einkaufen oder hätte vielleicht eine Verabredung. Ich habe sie abgesetzt und bin weitergefahren. Aber ich habe das Motorrad gesehen. Es stand neben dem Laden, und ich habe noch gesehen, daß sie darauf zugegangen ist. Ich meine, ich weiß ja nicht, ob der Fahrer auf sie wartete, und erkannt habe ich ihn auch nicht. Ich habe nur gesehen, daß sie mit energischen Schritten zum Motorrad gegangen ist und sich nicht mehr umgeschaut hat.«
»Was war das für ein Motorrad?« fragte Sejer.
Johnas breitete die Arme aus. »Ich weiß ja, daß Sie mich danach fragen müssen, aber ich habe keine Ahnung von Motorrädern. Ich komme doch nun wirklich aus einer ganz anderen Branche. Ich habe im Grunde nur Chrom und Stahl gesehen.«
»Und die Farbe?«
»Sind Motorräder nicht meistens schwarz?«
»Durchaus nicht«, antwortete Sejer kurz.
»Es war jedenfalls nicht knallrot, daran würde ich mich erinnern.«
»War es ein großes, kräftiges Modell oder ein kleineres?« erkundigte Skarre sich.
»Ich glaube, es war groß.«
»Und der Fahrer?«
»Von dem war nicht viel zu sehen. Er trug einen Helm. An dem Helm war etwas Rotes, das weiß ich noch. Und er kam mir nicht vor wie ein Erwachsener. Sah eher aus wie ein Jugendlicher.«
Sejer nickte und beugte sich vor.
»Sie haben Annies Freund gesehen. Er hat ein Motorrad. Kann er es gewesen sein?«
Jetzt runzelte Johnas beinahe mißtrauisch die Stirn. »Ich habe ihn von weitem hier auf der Straße gehen sehen. Aber der Motorradfahrer war auch ziemlich weit weg, und er trug einen Helm. Ich kann nicht sagen, ob er es war. Ich möchte nicht einmal die Möglichkeit andeuten.«
»Nicht, ob er es war.« Sejer kniff die Augen zusammen. »Nur, ob er es gewesen sein könnte. Sie sagen, es sei ein junger Mann gewesen. War er von schmächtiger Figur?«
»Das läßt sich nicht so leicht sagen, wenn jemand einen
Lederanzug trägt«, sagte Johnas hilflos.
»Aber warum glauben Sie dann, daß er jung war?«
»Nein«, sagte Johnas verwirrt. »Was soll ich sagen? Ich habe es wohl angenommen, weil Annie jung ist. Oder vielleicht lag es auch an seiner Haltung.« Er sah verlegen aus. »Man weiß in dem Moment doch nicht, daß das wichtig ist.«
Wieder erhob er sich und kniete dann neben der Hündin nieder. »Sie müssen versuchen zu verstehen, wie es ist, in diesem Dorf hier zu wohnen«, sagte er verlegen. »Gerüchte verbreiten sich nur allzu schnell. Und ich glaube einfach nicht, daß ihr Freund dazu fähig ist. Er ist doch noch ein Junge, und sie waren schon so lange zusammen.«
»Das müssen Sie schon uns überlassen«, sagte Sejer energisch. »Das Motorrad ist natürlich wichtig, und es ist noch von einem weiteren Zeugen gesehen worden. Wenn er unschuldig ist, dann wird er auch nicht verurteilt.«
»Nicht?« fragte Johnas skeptisch. »Nein, nein, aber es ist schlimm genug, unter Verdacht zu stehen, möchte ich meinen. Wenn ich sage, daß der Motorradfahrer mit Annies Freund Ähnlichkeit hatte, dann machen Sie dem sicher die Hölle heiß. Und ich habe doch wirklich keine Ahnung, wer es war.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe nur eine Gestalt in Motorradkluft und Helm gesehen. Ich habe einen Sohn von siebzehn Jahren, der hätte das auch sein können. Ich hätte ihn in der Montur einfach nicht erkannt, verstehen Sie?«
»Ja, ich verstehe«, sagte Sejer kurz. »Jetzt haben Sie meine Frage endlich beantwortet. Er kann es gewesen sein. Und was diese Hölle angeht, dann ist er dort wohl schon angekommen.«
Johnas schluckte hörbar.
»Worüber haben Sie sich unterhalten, Sie und Annie, nachdem sie zu Ihnen ins Auto gestiegen war?«
»Sie hat nicht viel gesagt. Und ich habe mich über Hera und die neuen Hundebabys verbreitet.«
»Ist sie Ihnen ängstlich oder nervös
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