Fremde Blicke
hundertachtzig Grad und kam in Fahrt. Die Männer sahen schweigend zu, wie Annie immer weiter hinaussegelte. Sie fegte wie ein schnelles Segelschiff über die Wellen. Der Vater folgte ihr mit der Kamera.
Sie waren jetzt das Auge des Vaters, so hatte er seine Tochter durch die Linse gesehen. Er gab sich alle Mühe, die Kamera ruhig zu halten, nicht zu sehr zu zittern, sondern der Surferin die größtmögliche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Durch die Aufnahmen spürten sie, wie stolz er auf Annie gewesen war. Hier war sie in ihrem Element. Sie hatte keine Angst, vom Brett zu rutschen und unterzugehen.
Plötzlich war sie verschwunden. Nun starrten sie einen gedeckten Tisch mit geblümter Tischdecke an, Teller und Gläser, geputztes Besteck, eine Vase mit Wiesenblumen. Koteletts, Würstchen und Speck auf einer hölzernen Platte. Neben dem Tisch glühte der Grill. Cola- und Mineralwasserflaschen glitzerten in der Sonne. Hier war S0lvi wieder, jetzt in Minirock und Bikinioberteil, frisch geschminkt, dazu Frau Holland in züchtigem Sommerkleid. Und endlich Annie, mit dem Rücken zur Kamera, in dunkelblauen Bermudashorts. Plötzlich drehte sie sich zur Kamera um, wieder auf die Aufforderung ihres Vaters hin. Wieder dieses Lächeln, jetzt etwas breiter, sie sahen ihre Lachgrübchen und die Andeutung von dünnen blauen Adern an ihrem Hals. S0lvi und die Mutter plapperten im Hintergrund, Eiswürfel klirrten, Annie schenkte Cola ein. Sie drehte sich noch einmal langsam um, die Flasche in der Hand, und fragte in die Kamera: »Cola, Papa?«
Ihre Stimme war überraschend tief. Gleich darauf waren alle in der Hütte. Frau Holland stand vor dem Küchentisch und schnitt Stücke von einem Kuchen.
Cola, Papa? Sie klang kurz angebunden und dennoch weich. Annie hatte ihren Vater geliebt, das hörten sie aus diesen beiden kleinen Wörtern, sie hörten Wärme und Respekt. Beides schien durch, so wie man in einem Glas den Unterschied zwischen Rotwein und Johannisbeersaft erkennt. Die Stimme war klangvoll und lebhaft. Annie war die Tochter ihres Vaters.
Der Rest des Films flimmerte vorbei. Annie und ihre Mutter beim Federball, außer Atem im heftigen Wind, der zum Surfen perfekt, für das Federballspielen jedoch eine Plage war. Die Familie um den Eßtisch versammelt, in Trivial Pursuit vertieft. Eine Großaufnahme des Spielbretts zeigte deutlich, wer in Führung lag, doch Annie triumphierte nicht. Sie sagte überhaupt nicht viel, während S0lvi und die Mutter die ganze Zeit redeten. S0lvi mit süßer, zarter Stimme, die Mutter tiefer und heiserer. Skarre blies sich den Rauch zwischen die Knie und kam sich so alt vor wie lange nicht. Nach kurzem Flimmern tauchte nun ein rötliches Gesicht mit weitaufgerissenem Mund auf. Eine imponierende Tenorstimme füllte das Zimmer.
»No man shall sleep«, sagte Konrad Sejer und erhob sich schwerfällig.
»Wie belieben?«
»Luciano Pavarotti. Er singt Puccini. Leg das Video ins Archiv«, fügte er hinzu.
»Sie war eine gute Surferin«, sagte Skarre beeindruckt.
Sejer konnte keine Antwort mehr geben. Sie wurden vom Telefon unterbrochen, Skarre nahm ab und riß gleichzeitig Block und Bleistift an sich. Das geschah ganz automatisch. Er glaubte auf dieser Welt an drei Dinge: an Gründlichkeit, Fleiß und gute Laune. Sejer las, was sein Kollege aufschrieb: Henning Johnas, Krystall Nr. 4. 12.45. Horgen, Laden. Motorrad.
»Können Sie zur Tankstelle kommen?« fragte Skarre hektisch. »Nicht? Dann kommen wir zu Ihnen. Das kann eine wichtige Auskunft sein. Haben Sie vielen Dank und bis gleich.«
Er legte auf.
»Einer der Nachbarn. Henning Johnas, wohnt in Nummer vier. Ist gerade von der Arbeit gekommen und hat die Sache mit Annie erfahren. Er hat sie gestern am Kreisverkehr aufgelesen und sie beim Laden wieder abgesetzt. Er sagt, daß dort ein Motorrad stand und auf sie wartete.«
Sejer lehnte sich mit dem Hintern auf den Tisch. »Wieder dieses Motorrad, das hat Horgen ja auch schon erwähnt. Halvor hat ein Motorrad«, sagte er nachdenklich. »Warum konnte Johnas nicht herkommen?«
»Seine Hündin wirft gerade.«
Skarre steckte den Zettel in die Tasche. »Kann sein, daß es Halvor schwerfällt zu belegen, wie lange er mit dem Motorrad unterwegs war. Ich hoffe, er ist nicht der Mörder. Er gefällt mir nämlich.«
»Ein Mörder ist ein Mörder«, sagte Sejer lakonisch. »Und manche sind sympathisch.«
»Ja«, antwortete Skarre. »Aber es ist leichter, einen einzubuchten, dessen Visage man
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