Fremde Blicke
hatte eingekauft, für Ragnhild und auch für Raymond. Ragnhild hatte heute zwei Haarbüschel auf dem Kopf, sie ragten wie Antennen in die Luft.
»Du hast heute ja eine schöne Frisur«, sagte er aufmunternd.
»Hiermit«, sagte die Mutter und zog an einem der Büschel, »kann sie Operation Weißer Wolf in Narvik hören, mit dem anderen hat sie Kontakt zur Oma auf Svalbard.«
Sejer schmunzelte verstohlen.
»Sie hat doch gesagt, es sei nur eine Staubwolke gewesen«, fügte die Mutter bekümmert hinzu.
»Sie hat gesagt, es war ein Auto«, sagte Sejer. »Das ist den Versuch wert.«
Er legte dem Kind eine Hand auf die Schulter. »Mach die Augen zu«, sagte er, »und versuch es dir vorzustellen. Und dann zeichnest du es, so gut du kannst. Du sollst nicht einfach ein Auto zeichnen, sondern genau das Auto, das ihr gesehen habt, Raymond und du.«
»Sicher«, sagte Ragnhild ungeduldig.
Sejer schob Frau Album aus der Küche ins Wohnzimmer, damit Ragnhild ihre Ruhe hatte. Frau Album trat ans Fenster und blickte zu den blauen Hügeln in der Ferne hinüber. Es war ein diesiger Tag, die Landschaft erinnerte an ein altes nationalromantisches Gemälde.
»Annie hat mehrmals für mich auf Ragnhild aufgepaßt«, sagte Frau Album leise. »Und wenn sie das gemacht hat, dann richtig. Es ist jetzt zwei Jahre her. Sie sind mit dem Bus in die Stadt gefahren und den ganzen Tag unterwegs gewesen. Sind Straßenbahn gefahren und Rolltreppe und Fahrstuhl in den Warenhäusern, und das hat Ragnhild großen Spaß gemacht. Annie war ein Naturtalent, wenn es um Kinder ging. Fürsorglich.«
Sejer hörte, wie Ragnhild in der Schachtel mit den Stiften wühlte. »Kennen Sie auch die Schwester? S0lvi?«
»Ich weiß, wer sie ist. Aber sie ist nur die Halbschwester.« »Ach?«
»Wußten Sie das nicht?«
»Nein«, sagte Sejer langsam.
»Das wissen alle«, erklärte Frau Album. »Das ist kein Geheimnis. Sie sind sehr verschieden. Eine Zeitlang gab es Probleme mit ihrem Vater. Mit S0lvis Vater, meine ich. Er hat das Besuchsrecht verloren, und damit wird er offenbar nicht fertig.«
»Und wieso?«
»Das Übliche. Suff und Gewalt. Aber das ist die Version der Mutter. Und Ada Holland ist ziemlich streng, ich weiß also nicht so recht.«
Mhm, dachte Sejer. »Aber jetzt ist S0lvi doch mündig? Und kann machen, was sie will?«
»Wahrscheinlich ist es zu spät. Die Beziehung ist jetzt sicher zerstört. Ich denke viel an Ada«, fügte sie hinzu. »Ich habe mein Kind zurückbekommen, sie nicht.«
»Fertig!« schrie Ragnhild in der Küche.
Sie sprangen auf und liefen zu ihr. Ragnhild hatte den Kopf schräggelegt und sah nicht besonders zufrieden aus. Eine graue Wolke füllte fast den ganzen Bogen aus, aus der Wolke ragte die Nase eines Wagens mit Scheinwerfern und Stoßstange. Die Motorhaube war lang wie bei einem amerikanischen Straßenkreuzer, die Stoßstange war schwarz angemalt. Der Wagen schien breit und zahnlos zu grinsen. Die Scheinwerfer standen schräg. Wie chinesische Augen, dachte Sejer.
»Hat der sehr viel Krach gemacht? Als er an euch vorbeigefahren ist?«
Er beugte sich über den Küchentisch und nahm den süßlichen Geruch ihres Kaugummis wahr.
»Ja, ziemlich.«
Sejer starrte die Zeichnung an. »Kannst du noch ein Bild für mich malen? Wenn ich sage: Mal mir die Scheinwerfer? Nur die Scheinwerfer.« »Aber die haben so ausgesehen!« Sie zeigte auf das Bild. »Die waren so schief.«
Er nickte. »Und welche Farbe hatten sie, Ragnhild?«
»Ach, so richtig grau waren die nicht. Aber hier ist ja keine große Auswahl.« Sie schüttelte mit altkluger Miene die Schachtel mit den Buntstiften. »Die waren irgendwie in einer Farbe, die es nicht gibt.«
»Wie meinst du das?«
»Also, eine Farbe, die keinen Namen hat.«
Eine Reihe Namen schwirrten durch Sejers Kopf. Sienna, Petrol, Sepia, Anthrazit.
»Ragnhild«, sagte er dann. »Weißt du noch, ob das Auto etwas auf dem Dach hatte?«
»Antennen?«
»Nein, etwas Größeres. Raymond hat gesagt, auf dem Dach hätte etwas Großes gelegen.«
Sie starrte ihn an und dachte nach. »Ja«, sagte sie plötzlich. »Ein kleines Boot.«
»Ein Boot?«
»Ein kleines schwarzes.«
»Ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen sollte.« Sejer lächelte und schnippte vor ihren Antennen mit den Fingern. »Elise«, sagte er dann. »Du hast einen schönen Namen.« »Niemand will mich so nennen. Alle sagen Ragnhild.«
»Ich kann dich Elise nennen.«
Sie errötete verlegen, legte den Deckel auf den
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