Fremde Blicke
Malkasten, klappte den Block zu und schob ihn zu Sejer hinüber.
»Nein, den kannst du natürlich behalten, das ist doch klar.« Sofort öffnete sie die Schachtel wieder und malte weiter.
»EIN KANINCHEN LIEGT AUF DER SEITE!«
Raymond stand in der Schlafzimmertür seines Vaters und schaukelte unruhig hin und her.
»Welches denn?«
»Caesar. Der belgische Riese.«
»Dann mußt du ihn umbringen.«
Raymond erschrak so sehr, daß ihm ein Furz entwischte. Aber das spielte keine Rolle mehr in dem ohnehin schon stickigen Zimmer.
»Aber der atmet noch wie wild.«
»Wir füttern keine sterbenden Tiere, Raymond. Leg ihn auf den Hauklotz. Die Axt steht in der Garagentür. Paß auf deine Hände auf«, fügte er noch hinzu.
Raymond wackelte mißmutig über den Hof zu den Kaninchenställen. Eine Zeitlang starrte er Caesar durch den Maschendraht hindurch an. Der liegt wie ein Baby da, dachte er, aufgerollt wie ein weicher Ball. Er hatte die Augen geschlossen. Er rührte sich nicht, auch als Raymond die Käfigtür öffnete und eine Hand hineinstreckte. Vorsichtig fuhr er dem Kaninchen über den Rücken. Der war so warm wie immer. Raymond packte das Tier im Nacken und hob es hoch. Es zappelte halbherzig, schien kaum noch Kräfte zu haben.
Danach saß Raymond schlaff am Küchentisch. Vor ihm lag ein Album mit Bildern von der Nationalmannschaft und von Vögeln und anderen Tieren. Er sah ziemlich traurig aus, als Sejer auftauchte. Er trug nur eine Trainingshose und Pantoffeln. Seine Haare standen zu Berge, sein Bauch war weiß und weich. Seine runden Augen schauten mürrisch drein, und er machte einen Schmollmund, als ob er heftig auf etwas herumlutschte, vielleicht auf einem Bonbon.
»Guten Tag, Raymond.«
Sejer machte eine tiefe Verbeugung, um Raymond gnädig zu stimmen. »Nerve ich dich ganz schrecklich?«
»Ja, ich bin doch mit meiner Sammlung beschäftigt, und jetzt werde ich gestört.«
»Das ist wirklich ärgerlich. Ich kann mir selber auch nichts Schlimmeres vorstellen. Aber ich wäre nicht gekommen, wenn es nicht unbedingt nötig wäre, das verstehst du doch
hoffentlich.«
»Sicher, ja.«
Raymond war ein wenig besänftigt und ging rückwärts ins Haus. Sejer folgte ihm in die Küche und legte die Zeichensachen auf den Tisch.
»Ich wollte dich bitten, ein wenig für mich zu zeichnen«, sagte er vorsichtig.
»O nein! Nie im Leben!«
Raymond sah so entsetzt aus, daß Sejer ihm eine Hand auf die Schulter legen mußte.
»Ich kann doch nicht zeichnen«, jammerte Raymond.
»Alle können zeichnen«, widersprach Sejer ruhig.
»Jedenfalls keine Menschen.«
»Darum geht es auch nicht. Sondern um ein Auto.«
»Ein Auto?«
Jetzt sah Raymond äußerst skeptisch aus. Seine Augen wurden schmaler und sahen fast normal aus.
»Das Auto, das dir und Ragnhild begegnet ist. Das so schnell gefahren ist.«
»Mit dem Auto nervt ihr ja vielleicht rum!«
»Ja, es ist wichtig. Wir suchen danach, aber niemand hat sich gemeldet. Vielleicht ist der Fahrer ein Schurke, Raymond, und dann müssen wir ihn doch fangen.«
»Ich hab doch gesagt, daß es viel zu schnell gefahren ist.«
»Etwas mußt du doch gesehen haben«, sagte Sejer, jetzt mit tieferer Stimme. »Du hast gesagt, daß es ein Auto war, ja? Nicht ein Boot oder ein Fahrrad. Oder zum Beispiel eine Kamelkarawane.«
»Kamel?«
Raymond lachte so herzlich, daß sein weißer Bauch bebte.
»Das wäre witzig, wenn eine Bande von Kamelen hier über die Straße laufen würde! Es waren keine Kamele. Es war ein Auto. Mit einem Skibehälter auf dem Dach.«
»Das zeichne jetzt«, befahl Sejer.
Raymond gab sich geschlagen. Er beugte sich über den Block und streckte die Zunge heraus wie ein Steuerruder. Er brauchte zwei Minuten, um klarzustellen, daß er die reine Wahrheit gesagt hatte. Das Ergebnis sah aus wie ein Graubrot auf Rädern.
»Kannst du das auch bunt malen?«
Raymond öffnete die Schachtel, betrachtete ausgiebig alle Stifte und entschied sich schließlich für den roten. Er gab sich äußerste Mühe, nicht über den Rand zu malen.
»Rot, Raymond?«
»Ja«, sagte der kurz und malte weiter.
»Das Auto war also rot? Bist du sicher? Hast du nicht grau gesagt?«
»Nein, rot.«
Sejer wägte seine Worte sorgfältig ab und zog unter dem Tisch einen Hocker hervor. »Du hast gesagt, du könntest dich nicht an die Farbe erinnern. Aber vielleicht sei das Auto grau gewesen, so wie Ragnhild gesagt hat.«
Raymond kratzte sich verärgert den Bauch.
»Ich weiß das jetzt
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