Fremde Blicke
Sie das?«
Holland rutschte im Sessel hin und her, es schien ihm peinlich zu sein, daß seine Nachgiebigkeit so offen an den Tag kam. »Ich fand es einfach blöd! Er war doch keine Gefahr für uns, er wollte nur ab und zu S0lvi sehen. Jetzt hat er nichts mehr. Seine Stelle hat er auch verloren, glaube ich.«
»Was ist mit S0lvi? Hätte sie ihn gern besucht?«
»Ich fürchte, Ada hat ihr das vermiest. Ada kann ziemlich hart sein. Bj0rk hat jetzt wohl aufgegeben. Aber ich habe ihn bei der Beerdigung gesehen, da konnte er immerhin einen Blick auf sie werfen. Verstehen Sie«, sagte er eindringlich, »es ist nicht so leicht, Ada zu widersprechen. Ich meine nicht, daß ich Angst vor ihr hätte oder so«, er lachte kurz und ironisch, »aber sie gerät so leicht außer sich. Man kann das nicht gut erklären. Sie gerät dermaßen außer sich, und das kann ich nicht ertragen.«
Wieder verstummte er, und Sejer wartete schweigend ab, während er versuchte, sich das verwickelte Zusammenspiel dieser Menschen vorzustellen. Wie tausend Fäden sich im Laufe der Jahre miteinander verwickelten und zähe, feinmaschige Netze bildeten, in denen man sich gefangen fühlte. Die dahintersteckenden Mechanismen faszinierten ihn. Und der intensive Widerwille der Menschen dagegen, das Messer zu ziehen und sich loszuschneiden, auch wenn sie vor Sehnsucht nach Freiheit schon krank waren. Holland wünschte sich sicher aus Adas Netz heraus, aber tausend Kleinigkeiten hielten ihn zurück. Er hatte eine Entscheidung getroffen, er würde für den Rest seines Lebens in diesen klebrigen Fäden festhängen, und diese Entscheidung zog ihn so nach unten, daß seine schwere Gestalt nur sehr gebeugt ging.
»Haben Sie noch nichts?« fragte er schließlich.
»Leider nein«, sagte Sejer widerwillig. »Wir haben nur eine Reihe von Menschen, die äußerst freundlich und positiv über
Annie sprechen. Wir haben nur spärliche technische Funde, die uns bisher nicht weitergebracht haben, und es gibt auch keine offenkundigen Motive. Annie wurde nicht vergewaltigt oder auf andere Weise mißhandelt. In der Nähe der Kuppe sind am fraglichen Tag keine Beobachtungen gemacht worden, die uns weiterhelfen, und alle, die in der Gegend mit dem Auto unterwegs waren, haben sich gemeldet und sind ausgeschieden. Es gibt zwar eine Ausnahme, aber dieses Auto ist uns nur so vage beschrieben worden, daß wir nicht weiterkommen. Der Motorradfahrer beim Laden ist wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht war es ja ein Tourist auf der Durchreise. Niemand hat das Nummernschild gesehen, es kann also gut ein Ausländer gewesen sein. Wir haben Taucher nach Annies Schultasche suchen lassen, aber sie hatten keinen Erfolg, wir müssen also annehmen, daß der Täter die Tasche noch immer hat. Aber wir haben keine Handhabe, um irgendwelche Durchsuchungen vorzunehmen. Wir haben nicht einmal eine konkrete Theorie. Wir haben so wenig, daß wir fast schon phantasieren. Annie kann zum Beispiel auf irgendeine Weise, vielleicht ganz zufällig, etwas erfahren haben, das für irgendwen gefährlich ist, und derjenige hat sie dann umgebracht, um sich ihr Schweigen zu sichern. Das müßten allerdings ziemlich heftige Informationen gewesen sein, schließlich haben sie einen Mord zur Folge gehabt. Sie war nackt, aber unberührt, und das kann bedeuten, daß der Mörder uns zu einer Sexualtheorie verführen wollte, möglicherweise um uns vom eigentlichen Motiv abzulenken. Und deshalb«, sagte er abschließend, »interessieren wir uns für Annies Vergangenheit.«
Er kratzte sich den Handrücken, der einen roten, schuppigen Flecken in der Größe eines Zwanzigkronenstückes zeigte.
»Sie gehören zu den Menschen, die Annie am besten gekannt haben. Und Sie haben sich sicher Ihre Gedanken gemacht. Ich muß Sie noch einmal fragen, ob irgend etwas in Annies Vergangenheit, Erlebnisse, Bekanntschaften, Bemerkungen,
Eindrücke, was auch immer, Sie vielleicht stutzig gemacht hat. Denken Sie an nichts Bestimmtes. Überlegen Sie einfach, ob Sie sich über irgend etwas gewundert haben. Über eine unerwartete Reaktion. Über Bemerkungen, Anspielungen, Tatsachen, die sich Ihnen eingeprägt haben. Annies Verhalten hatte sich geändert. Ich habe den Eindruck, daß das vielleicht nicht nur an der Pubertät gelegen hat. Können Sie diesen Eindruck bestätigen?«
»Ada sagt ...«
»Aber was sagen Sie?«
Sejer hielt seinem Blick stand. »Sie hat mit Halvor Schluß gemacht, ist aus dem Handballverein ausgetreten und hat
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