Fremde Blicke
sich in sich selber zurückgezogen. Ist zu dieser Zeit irgend etwas Außergewöhnliches passiert?«
»Haben Sie mit Jensvoll gesprochen?«
»Sicher.«
»Also, nein, ich habe Gerüchte gehört, aber die treffen vielleicht nicht zu. Bei uns verbreiten Gerüchte sich sehr schnell«, fügte er hinzu, verlegen und mit leicht geröteten Wangen.
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, Annie hat einmal etwas erwähnt. Angeblich hat er gesessen. Vor langer Zeit. Ich weiß nicht, warum.«
»Hat Annie das gewußt?«
»Er hat also gesessen?«
»Ja, hat er. Aber ich wußte nicht, daß jemand davon weiß. Wir überprüfen alle, die mit Annie zu tun hatten, ob sie ein Alibi haben und so weiter. Wir haben schon mit über dreihundert Menschen gesprochen. Aber leider wirkt keiner von ihnen besonders verdächtig.«
»Oben im Kollevei wohnt ein Mann«, murmelte Holland, »der nicht ganz so ist, wie er sein sollte. Ich habe gehört, daß er sich an die Mädchen hier unten heranmacht.«
»Mit dem haben wir auch gesprochen«, sagte Sejer geduldig.
»Der hat Annie ja schließlich gefunden.«
»Ja, stimmt.«
»Er hat ein Alibi.«
»Hoffentlich ist das auch zuverlässig.«
Sejer dachte an Ragnhild und erzählte Holland lieber nicht, daß ein sechsjähriges Kind dieses Alibi darstellte.
»Warum wollte sie keine Kinder mehr hüten?«
»Sie war sicher zu alt dazu.«
»Aber ich habe den Eindruck gewonnen, daß sie Kinder über alles liebte. Deshalb finde ich diesen Entschluß doch seltsam.«
»Sie hat jahrelang nichts anderes gemacht. Zuerst die Hausaufgaben, dann nachsehen, ob irgendwer in der Nachbarschaft einen Babysitter brauchte. Und wenn die Kinder sich stritten, hat sie immer für Ruhe und Ordnung gesorgt. Das arme Würstchen, das den ersten Stein geworfen hatte, mußte dann einfach ein Geständnis ablegen. Dann wurden alle Sünden vergeben, und alles war Friede Freude Eierkuchen. Sie war eine gute Vermittlerin. Sie hatte Autorität, und alle machten, was sie sagte. Auch die Jungs.«
»Eine diplomatische Natur, mit anderen Worten?«
»Genau. Sie sorgte gern für Ordnung. Sie konnte ungelöste Konflikte nicht vertragen. Wenn es zum Beispiel mit S0lvi Probleme gab, dann fand Anni immer eine Lösung für uns. Sie war eine Art Maklerin. Aber irgendwie«, sagte er langsam, »hat sie auch daran das Interesse verloren. Sie hat sich nicht mehr um alles gekümmert, so wie früher.«
»Wann war das?« fragte Sejer rasch.
»Irgendwann im letzten Herbst.«
»Was ist da passiert?«
»Das habe ich doch schon erzählt. Sie wollte nicht im Handballverein bleiben und überhaupt nicht mehr so wie früher mit anderen Zusammensein.«
»Aber warum nicht?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Holland verzweifelt. »Ich habe doch gesagt, daß ich das nicht begreife.«
»Versuchen Sie, über Ihre eigene Familie hinauszuschauen. Vorbei an Halvor, dem Verein und den Problemen mit Axel Bj0rk. Ist in der Nachbarschaft noch etwas passiert, irgendwas, das nicht unbedingt etwas mit Ihrer Familie zu tun gehabt haben muß?«
Holland breitete die Arme aus.
»Ja, das schon. Aber es hat nichts mit dieser Sache zu tun. Eins von den Kindern, auf die Annie aufgepaßt hat, ist durch einen tragischen Unfall umgekommen. Aber eigentlich hat das keine Rolle gespielt. Annie hatte sich innerlich schon abgemeldet, sie wollte immer nur ihre Turnschuhe anziehen und von unserem Haus und der Straße weglaufen.«
Sejer spürte, daß sein Herz schneller schlug.
»Was haben Sie da gesagt?«
»Eins von den Kindern, auf die sie aufgepaßt hat, ist durch einen Unfall ums Leben gekommen. Ein kleiner Junge namens Eskil.«
»Ist das passiert, während Annie bei ihm war?«
»Nein, natürlich nicht.« Holland blickte ihn erschrocken an. »Nein, sind Sie verrückt? Annie war sehr vorsichtig, wenn sie die Verantwortung für fremde Kinder trug. Hat sie nicht einen Moment aus den Augen gelassen.«
»Wie ist das passiert?«
»Es war bei ihnen zu Hause. Er war erst knapp über zwei. Annie hat das sehr schwer genommen. Aber das ging uns allen so, schließlich hatten wir ihn alle gekannt.«
»Und wann ist das passiert?«
»Im letzten Herbst, das habe ich doch schon gesagt. Als sie sich von allem zurückgezogen hat. Damals ist so viel passiert, wir hatten alle keine leichte Zeit. Halvor rief an, Jensvoll rief an. Bj0rn nervte wegen S0lvi herum, und mit Ada war es fast nicht zum Aushalten.«
Er verstummte und schien sich plötzlich zu schämen.
»Wann genau ist es zu diesem Todesfall
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