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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Türknauf gelehnt. Die Robe fiel bis auf die Hälfte der Oberschenkel auseinander. Sie hob ihr Antlitz, als erblicke sie durch die Decke, was sich im Himmel alles so tat.
    Die Pose (und er wußte, es war eine) erinnerte ihn an die Kalenderzeichnungen von Mädchen aus den Vierzigern und Fünfzigern - die üppigen Rundungen der Oberschenkel, Brust und Hüften. Aber Carole-Annes waren sehr echt. Und sehr gegenwärtig!
    »Schade, daß Stan nicht da ist.« Sie entrang sich noch einen Seufzer und schaute weiter gen Himmel.
    Stan Keeler war ihr Gegengift zu Jurys »Freundin«. Er hatte Carole-Annes strengen Kriterien genügt und die Mietwohnung über Jury ergattert, denn er war hübsch, ernsthaft, talentiert und ungebunden. Im Gegensatz zu Jury, der bunte Steine in feuchten Ton preßte, war er ohne »Freundinnen«.
    »Solange er seine Gitarre nicht dabeihat.«
    Hier bot sich Carole-Anne der Vorwand, zum Angriff überzugehen und ein bißchen von dem Dampf abzulassen, der wegen des Schmuckkästleins zu entweichen drohte. »Was? Soll das heißen, Sie mögen Stans Musik nicht? Na, jetzt werden Sie aber wirklich alt.«
    Jury lächelte ein Stückchen blauen Stein an. »Er spielt göttlich, solange er es im Nine-One-Nine tut und nicht über meinem Kopf. Wenn Stan ein Riff raushaut, habe ich das Gefühl, als würde ich von der IRA mit Uzis geweckt.«
    Als habe er außerdem gerade zugegeben, daß er weder Stan noch seine Riffs mochte, sagte Carole-Anne vorwurfsvoll: »Sie haben ihn doch gefunden.«
    »Aber nicht gesucht.« Er hatte Stan Keeler vor etlichen Jahren im Nine-One-Nine kennengelernt, dem Club, in dem Stan regelmäßig spielte. Ein Wahnsinnsgitarrist. »Und wenn ich mich recht entsinne, haben Sie ihm die Wohnung vermietet.«
    Carole-Anne ließ nicht locker. »Wahrscheinlich mögen Sie nicht mal Stone.«
    Stone war Stan Keelers Hund. »Warum sollte ich Stone nicht mögen? Er hat mehr Köpfchen als wir beide zusammen.«
    Stan war eine Undergroundsensation, ein Kultmusiker, und sich seiner Talente durchaus bewußt. Doch Ruhm interessierte ihn nicht im geringsten. Er war einer der besessensten Künstler, die Jury je kennengelernt hatte. Vielleicht lief deshalb nichts zwischen Stan und Carole-Anne. Na ja, soweit Jury wußte.
    »Also, was machen Sie mit der Schachtel, wenn sie fertig ist?«
    »Ich bringe sie nach Heathrow. Dort arbeitet sie.« Carole-Anne sank sichtbar in sich zusammen. Er sollte wirklich aufhören, sie immer so auf den Arm zu nehmen. »Wenn Sie wollen, können Sie mitkommen.«
    »Ich glaube, ich trinke erst mal einen Tee. Sie auch?« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern ging durch sein Wohnzimmer in die winzige Küche. Dann hörte er Geschirr klappern und Wasser laufen.
    Er hatte vergessen, daß Carole-Anne eine Heidenangst vor Flughäfen hatte. Sie flog nie, ging nie auch nur in die Nähe eines Flughafens. Woher ihre Angst kam, wußte er nicht, aber er hielt sie für echt. Sie hatte ihm einmal eine Geschichte erzählt, die sie auf einem Flughafen miterlebt hatte. Es ging um eine Mutter und ein Kind, die bitterlich weinten, und Carole-Anne hatte daraus geschlossen, daß der kleine Junge und seine Mutter voneinander getrennt wurden. Es habe ausgesehen, als sei die Trennung erzwungen, als wollten sie sie beide nicht. Der kleine Junge habe seiner Mutter die Tränen aus dem Gesicht gewischt. Noch Tage danach sei ihr übel gewesen, hatte Carole-Anne erzählt. Sie sei ja kaum wieder aus dem Bett gekommen.
    Jury war überzeugt, daß das Kind kein Junge, sondern ein Mädchen, und zwar das Mädchen Carole-Anne gewesen war. Denn sie hatte noch nie von ihrer Familie geredet, nur beiläufig manchmal Onkel und Cousinen erwähnt, jedoch keine Mutter und keinen Vater. Diesbezüglichen Fragen wich sie geschickt aus, als sei sie darin wohlgeübt.
    So bildschön und forsch Carole-Anne auch war, für Jury war sie der Inbegriff von Traurigkeit. Denselben Ausdruck sah er manchmal auf den Gesichtern von Zeugen in dem Moment, in dem sie die Schutzmaske fallen ließen. Obwohl er wußte, wie schwer es war, sich offen den Fragen der Polizei zu stellen, wartete er es immer ab, denn dann bekam er meist die ehrlichsten Antworten. Erst dann wurden die Menschen real, als hätten sie sich von der Leine befreit, die sie zurückhielt, oder dem Joch, das sie niederdrückte.
    Jury wurde aus seinen Gedanken gerissen. Carole-Anne hielt ihm den Becher mit Tee hin. »Danke.« Er trank und sagte: »Also gut, wie wär's mit dem Angel? Es macht

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