Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Jan fragen. Mit seinem Flügel ist er sehr eigen.«
Auch Jan hat Prinzipien. Niemand außer ihm darf auf seinem wertvollen Flügel spielen.
Er kommt mit Orangensaft und Nusshäufchen zurück. Merle greift vorsichtig nach einem Glas, hält es mit beiden Händen fest.
»Schön, dass ihr gekommen seid.«
Ich beiße in ein Nusshäufchen. »Merle möchte dich was fragen.«
»Was denn?« Er lächelt wieder.
»Darf ich auf deinem Klavier spielen?« Ihre Stimme klingt hoffnungsvoll.
Das Lächeln verschwindet.
»Ich wasche mir auch vorher die Hände.«
Jan wirft mir einen gequälten Blick zu. Ich habe nicht vor, mich in dieses Gespräch einzumischen.
»Das geht nicht, Merle.«
»Bitte. Ich mache nichts kaputt.«
»Nein.«
Merle springt auf, der Orangensaft schwappt über. Sie läuft in den Flur. Ich laufe hinter ihr her. Sie steht an der Garderobe. Vergräbt ihr Gesicht in Jans Mänteln.
»Komm«, sage ich.
Keine Antwort.
»Vielleicht singst du was, und ich spiele dazu«, höre ich Jan aus dem Wohnzimmer rufen.
Merles Gesicht taucht aus den Mänteln auf. Verschwindet gleich wieder. Jan wird nicht nachgeben. Ob sie das ahnt?
»Merle?«, ruft Jan.
Ein kurzer Blick zu mir. Dann rennt sie ins Wohnzimmer zurück.
Jan redet leise mit ihr. Spielt ein paar Töne, bricht wieder ab. Sie fängt an zu singen. Ein Wiegenlied. Dieselbe hohe, klare Stimme wie Lydia. In mir zieht sich etwas zusammen. Ein englischer Text. Daran habe ich bisher nicht gedacht. Mehr als nur eine Sprache. Jan nimmt die Melodie auf. Leise Töne. Merle singt eine zweite Strophe. Ich gehe nicht ins Wohnzimmer. Gehe in die Küche. Dort sieht sie mich nicht.
Lydia hat Shampoo in die Augen bekommen, sage ich zu Vater. Jetzt weint sie. Er schaut ärgerlich von seinen Akten hoch. Das ist Sache deiner Mutter. Die lernt ihren Text. Dann muss sie eben für ein paar Minuten damit aufhören. Ich habe zu arbeiten. Mutter sagt, das, was sie macht, ist auch Arbeit. Herrgott noch mal!, ruft Vater und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Diese Rollenlernerei führt doch zu nichts. Wann hat sie zum letzten Mal ein Engagement am Theater gehabt? Das muss in einem anderen Leben gewesen sein. Sag ihr, dass ich derjenige bin, der hier das Geld verdient, und dafür kann ich verlangen, dass meine Familie mich abends ungestört arbeiten lässt. Ich laufe schnell aus dem Raum, bevor Vater noch wütender wird. Zurück ins Wohnzimmer zu Mutter. Sie geht mit einem Buch in der Hand auf und ab und verkündet mit lauter Stimme: Man muß sich stelln mit den Leuten, eine Hand wäscht die andre, mit dem Kopf kann man nicht durch die Wand. Du sollst zu Lydia kommen. Sie hat Shampoo in den Augen. Nein!, schreit Mutter. Nein! Nein! Nein! Wie soll ich jemals meine Rolle lernen, wenn du mich immerzu unterbrichst! Aber Lydia weint, und ich darf ihr nicht helfen, und Vater sagt, er will arbeiten, und wir müssen still sein, weil er das Geld verdient. Mutters Augen wandern in die Ferne. Sie ist nicht mehr bei mir. Ich habe Angst. Leise gehe ich aus dem Wohnzimmer. Zurück zu Lydia. Sie weint immer noch. Ich tröste sie. Jetzt darf ich ihr das Shampoo auswaschen, sie abtrocknen, ihr die Haare föhnen. Ich ziehe ihr den weißen Bademantel mit den roten Punkten an und trage sie in unser Zimmer. Wir setzen uns auf mein Bett, ich nehme Lydia in den Arm, lese ihr aus einem Bilderbuch vor. Sie schläft ein. Ich lege sie ins Bett, breite die Decke über ihr aus, gebe ihr einen Kuss. Ich gehe ins Wohnzimmer zurück. Mutter sitzt im Sessel. Mit demselben Blick wie vorhin. Auf dem Tisch liegt das Buch. Bertolt Brecht Mutter Courage. Ich strecke die Hand danach aus. Lass es liegen, sagt Mutter. Was ist Courage?
Im Wohnzimmer ist es still. Weint Merle?
Jan kommt zu mir in die Küche.
»Was macht sie jetzt?«
»Sie malt.«
»Lydia weiß nicht, wer Merles Vater ist. Es hat sie nie interessiert.«
»Damit hast du gerechnet.«
»Es ging ihr sehr schlecht heute, noch schlechter als gestern.«
»Vielleicht ist das der Grund, warum Merle begonnen hat, dir zu vertrauen. Wenn ihre Mutter stirbt, hat sie nur noch dich.«
So habe ich das bisher nicht gesehen. Ein neuer Druck. Morgen früh muss ich mich entscheiden.
»Du bist dir nicht mehr sicher, ob du Merle dem Sozialdienst übergeben willst.«
»Ja …«
»Hat Lydia sich zu dem Thema geäußert?«
»Sie meinte, ein Heim wäre doch die bessere Lösung gewesen. Aber sie sei ja nicht gefragt worden.«
Wir schweigen eine Weile.
»Du hast dich
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