Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Nase.
»Wusste Mama, dass sie krank werden würde?«
»Ich glaube, das war ihr damals egal. Sie hat nicht an die Zukunft gedacht.«
»Aber jetzt … jetzt ist es ihr nicht egal.«
»Nein, da hast du recht. Jetzt hat sie dich, und da wäre sie viel lieber gesund.«
Ich schließe die Haustür auf. Merle greift gleich wieder nach meiner Hand. Ihre Finger sind heiß und feucht. Ich bereue, ihr von Lydia und den Drogen erzählt zu haben.
11.
M erle liegt im Bett. Ich habe sie zugedeckt. Ihr gute Nacht gesagt. Geküsst habe ich sie nicht.
»Wann darf ich in die Schule?«
»… Ich weiß nicht.«
»Ich bin schon sieben. Hat Mama auch gesagt.«
»Ich kann dich nicht einfach in eine Schule bringen.«
»Warum nicht?«
»Weil du dafür in Hamburg wohnen musst.«
Merle runzelt die Stirn.
»Wir müssten zu einem Amt gehen und dich in meiner Wohnung anmelden. Das dürfen wir nur, wenn deine Mutter es erlaubt.«
»Aber die ist doch krank.«
»Trotzdem. Ich muss erst mit ihr reden.«
Merle dreht sich zur Wand.
Die dritte schlaflose Nacht. Der Sozialdienst. Das Gespräch morgen früh. Bringen Sie das Kind in einem Heim unter. Der Wunsch der Mutter. Die Kleidung können Sie mitnehmen. Nein. Ich werde Merle eine Zeitlang versorgen. Wenn ihre Mutter einverstanden ist. Aber wie soll ich? So viele Termine. Babyhandel. Jan würde helfen. Wann darf ich in die Schule? Merle ist nicht so haltlos. Wenn Lydia etwas in ihrem Leben gelungen ist. Was weiß ich von ihr? Sie wahrt die Fassade. Wie ich.
Ich träume. Lydia sitzt vor mir im Boot. Wir rudern auf dem Alsterkanal. Ich blicke auf ihren breiten Rücken, die muskulösen Arme. Wieso ist sie so stark? Ich bin die Ältere. Streng dich gefälligst an!, ruft Lydia mir über die Schulter zu. Glaubst du, ich habe Lust, für zwei zu rudern? Es gelingt mir nicht, die schweren Ruder schneller zu bewegen. Die Arme tun mir weh. Ich habe Blasen an den Händen. Der Schweiß läuft mir in die Augen. Ich rudere, rudere. Nie werde ich es schaffen, die Ruder im selben Rhythmus einzutauchen wie Lydia. Ich schaue hoch. Wir sind auf dem offenen Meer. Nichts als Wasser und Himmel um uns herum. Ich schreie. Hör auf!, faucht Lydia mich an. Was hast du anderes erwartet?
Ich spüre eine Hand auf meinem Arm. Merle steht neben dem Schlafsofa und schaut mich erschrocken an.
»Du hast geschrien. Bist du krank?«
»Nein, ich habe schlecht geträumt.«
Merle schlägt meine Decke zurück. Nein!, will ich sagen. Da liegt sie schon neben mir. Rollt sich zusammen. Legt mir den Arm auf den Bauch. Ich fange an zu schwitzen. Will von ihr abrücken. Merle lässt mich nicht los.
Komm, ruft Lydia und zieht mich am Ärmel hinter sich her in die Küche. Ich zeig dir was. Was denn? Sag ich nicht. Lydia macht leise die Küchentür zu, geht weiter zur Speisekammer. Ich muss auf sie aufpassen. Gleich wirst du staunen, ruft Lydia und greift nach der Trittleiter. Du weißt, dass wir da nicht draufsteigen dürfen. Sieht doch keiner, antwortet Lydia und klappt die Leiter auf. Flink klettert sie auf die oberste Stufe, holt das Kugelglas mit dem Mehl herunter. Ich werde ungeduldig. Was soll das? Lydia zieht merkwürdige Schnuten und kräuselt die Nase. Ich zähle bis zehn. Länger warte ich nicht. Als ich bei acht angekommen bin, schraubt Lydia den Deckel ab. Sie füllt die kleine Holzschaufel mit Mehl und kippt es sich in den Mund. Spuck das aus!, schreie ich. Mehl darf man nicht so essen. Lydia schluckt und würgt. Dann reißt sie den Mund auf und streckt mir ihre weiße Zunge entgegen. Runtergeschluckt, ruft sie stolz. Na toll, murmele ich. Jetzt bist du dran. Lydias Augen funkeln. Ich bin doch nicht blöd. Schmeckt lecker, ruft Lydia und fängt an zu kichern. Quatsch!, sage ich. Woher weißt du das, wenn du’s nie probiert hast?, fragt Lydia. So was weiß jeder. Das muss man nicht probieren. Bitte!, ruft Lydia. Nein, ich esse lieber was anderes. Nur einmal, bitte, bitte! Mir ist auch nicht schlecht. Na gut, denke ich. Was ist schon dabei? Ich fülle etwas Mehl auf die kleine Holzschaufel. Das ist Lydia nicht genug. Ich soll genauso viel nehmen wie sie. Und jetzt musst du’s essen. Lydia kommt ganz nah an mich heran. Ich lege den Kopf in den Nacken und schütte mir das Mehl in den Mund. Ich spüre ein schreckliches Kitzeln in meiner Kehle, versuche zu schlucken. Die mehlige Masse klebt an meinem Gaumen, an meiner Zunge. Mir steigen die Tränen in die Augen. Lydia biegt sich vor Lachen. Ich will ihr sagen, dass
Weitere Kostenlose Bücher