Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
hagerer als gestern. Ihre Lider sind beinahe durchsichtig. Schläft sie, oder weigert sie sich nur, mich anzusehen?
»Ich bin’s, Franka«, sage ich leise.
Ihre Augen bleiben geschlossen. Kein Zucken um den Mund. Nichts. Mir wird heiß. Atmet sie noch?
Ich beuge mich über sie. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Wenn nur dieser Geruch nicht wäre.
Das Bett ihrer Zimmernachbarin ist leer.
Ich öffne ein Klappfenster und setze mich auf den Stuhl neben Lydias Bett. Die Infusion läuft durch eine Kanüle in ihren dünnen Arm. Sah ihre Hand vor zwei Tagen in meiner Küche auch schon so mager aus? Wenn es dir nichts ausmacht, hätten wir gern noch mehr. Habe ich es nicht wahrhaben wollen, wie krank sie ist?
Ich wünsche, ich könnte nach dieser Hand greifen. Lydia sagen, dass ich bei ihr sei und sie nicht unter Fremden sterben müsse.
Langsam strecke ich meine Hand aus. Ziehe sie wieder zurück.
Lydia wird mich aus dem Zimmer schicken. Sie wird sagen, niemand sei ihr fremder als ich. Sie hat recht.
Ihre Lippen bewegen sich. Lautlos. Wie oft hat Lydia früher im Schlaf gesprochen oder geschrien.
Ich schrecke hoch. Um mich herum ist alles dunkel. Vorsichtig lasse ich meine Finger wandern, bis ich etwas Weiches berühre. Natürlich, ich liege in meinem Bett. Und neben mir liegt Lydia. Unsere Decke ist heruntergefallen. Ich hebe sie auf, breite sie über uns beiden aus. Mama, murmelt Lydia. Ich streiche ihr über den Kopf. Schlaf weiter.
»Bist du schon lange da?«, flüstert Lydia.
Ich blicke sie an. Ihre Augen sind matt, als läge ein grauer Schleier auf den Pupillen.
»Seit fünf Minuten.«
Ich werde mich nicht von ihr wegschicken lassen. Werde bleiben, bis ich mit ihr über Merles Vater gesprochen habe.
»Habe ich im Schlaf geredet?«
»Nein.«
»Wo ist Merle? Sie war vorhin hier.«
»Eine der Schwestern kümmert sich um sie.«
»Was willst du?«
»Ich muss dich etwas Wichtiges fragen.«
»Mach es kurz. Ich bin erschöpft.«
»Es geht um Merles Vater.«
»Jetzt fängst du auch noch damit an. Alle paar Stunden fragt mich jemand danach. Das geht niemanden etwas an.«
»Du irrst dich. Vielleicht ist dir nicht klar, wie es um dich steht, aber wir müssen wissen, an wen wir uns wenden sollen, für den Fall, dass du …«
»Na was? Sprich es aus!«
Ich schlucke. »Dass du die Krankheit nicht überlebst.«
»Du willst, dass ich sterbe.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«
»Das willst du doch schon lange. Solange ich denken kann.«
»Nein. Die Vorstellung, dass du nicht mehr lebst und Merle allein zurückbleibt, ist ein Alptraum für mich. Wer soll für sie sorgen?«
»Ich werde für sie sorgen, so wie ich sieben Jahre lang für sie gesorgt habe … Es war nicht immer leicht, das kannst du mir glauben … Aber ich werde wieder gesund, das weiß ich.«
»Das kannst du nicht wissen. Niemand kann das wissen. Gerade hat mir die Ärztin gesagt, dass sich dein Zustand im Vergleich zu gestern verschlechtert hat.«
»Da frohlockst du schon, was?«
»Nein, ganz und gar nicht. Warum glaubst du mir nicht, wenn ich dir …«
»Ich möchte, dass du jetzt gehst …« Lydias Augen fallen zu. »Und mich in Zukunft in Ruhe lässt …«
»Bitte sag mir, wer Merles Vater ist.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Lydia …« Ich greife nach ihrer Hand.
»Lass mich!« Sie schlägt meine Hand weg. »Wenn du es wagst, mich noch einmal anzufassen, rufe ich nach der Schwester.«
Ich lehne mich zurück und hole tief Luft. Es hat keinen Zweck. Lydia wird alle Versuche boykottieren. Und Merle wird darunter leiden.
»Weißt du, wie sehr Merle zu dir hält?«
»Ja, und ich bin stolz auf sie.«
»Aber sie hat es so schwer. Sie spricht nicht mit mir, weil sie dich nicht verraten will. Das ist zu viel für ein siebenjähriges Kind.«
»Woher willst du das wissen?«
»Kannst du ihr nicht erlauben, etwas Vertrauen zu mir zu haben?«
»Vertrauen? Zu dir?«
»Ich mag Merle. Und ich möchte ihr helfen.«
»Ein Heim wäre doch die bessere Lösung gewesen. Aber ich bin ja nicht gefragt worden.«
»Als sie gestern bei mir im Flur stand, musste ich an dich denken. Der dicke Zopf, die breiten Wangenknochen, die langen Wimpern.«
»Diese sentimentale Masche zieht bei mir nicht.«
»Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich um diese Wimpern beneidet habe.«
»Du hast mich um alles beneidet.«
»Später nicht mehr …«
»Nein, da war ich nur noch Abschaum für dich.«
»Das habe ich nie gesagt.«
»Aber
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