Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
Vom Netzwerk:
gestern über mich geärgert.«
    »Geärgert ist nicht das richtige Wort. Du warst so hart, so unerbittlich. Das fand ich erschreckend.«
    »Ich bin nur so, wenn es um Lydia geht.«
    »Es ging ja nicht um sie, sondern um Merle.«
    »Die Tochter stand für die Mutter.«
    »Und damit ist es jetzt vorbei?«
    »Ich weiß nicht …«
    »Sie hat eine schöne Stimme.«

    »Wenn ich groß bin, kaufe ich mir einen Flügel«, sagt Merle auf der Nachhausefahrt.
    »Vielleicht fängst du mit einem Klavier an. Das klingt auch schön und ist nicht ganz so teuer.«
    »Kannst du Klavier spielen?«
    »Nein.«
    »Aber Mama.«
    »Na ja.«
    »Sie hat es sich selbst beigebracht.«
    »Sie hat es versucht.«
    »Mir hat sie gesagt, sie kann’s.«
    Lydias endloses Geklimper. Sie war kaum älter als Merle. Unterricht wollte sie nicht nehmen. Ich kann allein viel besser spielen. Willst du keine Stücke lernen?, fragte ich. Ich spiele meine eigenen Stücke, rief Lydia. In meinem Kopf sind so viele Töne. Die wollen alle raus. Ich muss sie nur ordnen. Ein paar Monate später war Schluss damit. Keine Lust mehr.
    Im Rückspiegel sehe ich, wie Merle die Unterlippe vorschiebt. Hat meine Bemerkung über das Klavierspiel ihrer Mutter sie wieder verstummen lassen?
    Ich parke, wir steigen aus. Merle folgt mir nicht. Gesenkter Kopf, zuckende Schultern.
    »Merle!« Ich laufe auf sie zu, nehme sie in die Arme.
    Sie stößt einen verzweifelten Laut aus, klammert sich an mich.
    »Es ist schlimm, ich weiß …« Ich streiche ihr über den Kopf.
    Vor lauter Schluchzen bekommt sie kaum Luft. Sie will mir etwas sagen. Ich verstehe sie nicht.
    Angst. Sie hat solche Angst. Ihre Mama ist noch nie so krank gewesen.
    Plötzlich lässt sie mich los. Blickt mit ihren verquollenen Augen zu mir hoch. »Glaubst du, dass sie wieder gesund wird?«
    »Ich hoffe es, Merle, ich hoffe es so sehr … In ein paar Tagen werden wir wissen, ob die Medikamente ihr helfen.«
    »Und wenn nicht?«
    Ich will Merle wieder an mich drücken. Sie lässt es nicht zu.
    »Dann stirbt sie, oder?«
    »Die Ärzte werden vielleicht versuchen, sie zu operieren.«
    Warum sage ich das? Die Chancen für eine Operation werden täglich geringer.
    Merle greift nach meiner Hand. »Operieren ist bestimmt schlimm.«
    »Man merkt es nicht, weil man vorher eine Betäubung bekommt.«
    »Trotzdem, wenn sie einen aufschneiden …«
    »Da schläft man tief und fest.«
    Merle scheint ihre Zweifel zu haben.
    »Die Ärzte operieren, um etwas Krankes aus dem Körper zu entfernen. Bei deiner Mutter würden sie außerdem versuchen, etwas Gesundes wieder hineinzusetzen.«
    »Mama sagt, dass ihr Bauch krank ist. Kann man denn einen neuen Bauch bekommen?«
    »Ihre Leber ist krank. Die sitzt oberhalb vom Bauch und sorgt dafür, dass unser Blut gesund bleibt.«
    »Und warum ist Mamas Leber krank?«
    Was soll ich Merle darauf antworten? Dass ihre Mutter sich mit Drogen vollgepumpt hat, bis sie nicht mehr laufen konnte? Dass wir manchmal Anrufe bekamen, weil man sie in einer Bahnhofstoilette oder einem schmutzigen Hausflur gefunden hatte? Dass sie mit zwanzig beinahe an einer Überdosis Heroin gestorben wäre?
    Ich sehe Lydia genau vor mir. Auf jener Party. Sie tanzt mit Simon. Der Anfang vom Ende. Lydia war gerade fünfzehn geworden. Setzte alles daran, sich in meine erste große Liebe zu mischen.
    »Sag doch mal.« Merle zieht ungeduldig an meiner Hand.
    »Als deine Mutter sehr jung war, hat sie sich … mit einer gefährlichen Krankheit angesteckt … Das Schlimme an dieser Krankheit ist, dass sie sich im Körper festsetzt, und … man zehn oder zwanzig Jahre leben kann, ohne Schmerzen zu haben. Und dann … wird man auf einmal krank …«
    »Wer hat sie angesteckt?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »War das hier in Hamburg?«
    »Ja …«
    »Können wir uns auch anstecken?«
    »Nein.«
    »Wieso nicht?«
    »Weil … wir uns keine Drogen in den Arm spritzen …«
    Jetzt habe ich es gesagt. Obwohl ich es nicht sagen wollte. Irgendwann wird Merle sowieso die Wahrheit erfahren. Warum nicht jetzt? Warum nicht von mir?
    Merle blickt mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Was sind Drogen?«
    »Gefährliche Stoffe, die die Menschen krank machen.«
    »Und warum hat sie sich so was in den Arm gespritzt?«
    »Weil sie den Rausch mochte, den sie davon bekam.«
    »Was ist ein Rausch?«
    »Ein Gefühl, als ob man fliegt.«
    »Hast du das auch mal versucht?«
    »Nein.«
    Merle nimmt mein Taschentuch entgegen, putzt sich die

Weitere Kostenlose Bücher