Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
sie aufhören soll. Ich bekomme keine Luft. Ich pruste und keuche und reiße das Kugelglas zu Boden. Wir stehen in einer riesigen Mehlwolke. Ich stürze zur Spüle, halte meinen Mund unter den Wasserhahn. Mama! Mama!, schreit Lydia. Ich trinke und spucke. Diese grässliche Mehlpampe. Ich drehe mich um. Mutter steht im Türrahmen. Sie starrt etwas an. Ich sehe es nicht. Sie macht die Tür zu. Weg ist sie. Lydia weint. Will hinter ihr herlaufen. Bleib hier!, brülle ich. Du weißt doch, dass sie ihre Rolle lernt. Ich hebe die Scherben auf und hole den Staubsauger aus dem Schrank. Du hast vorher keine Spucke im Mund gesammelt, schluchzt Lydia. Deshalb ist dir das Mehl im Hals kleben geblieben. Lass mich in Ruhe, sage ich und stelle den Staubsauger an. Ich sauge das Mehl von unseren Schuhen und Strümpfen und Pullis und Hosen. Ich sauge den Küchenfußboden. Ich lasse Wasser in den Eimer einlaufen und wische mit einem Lappen über den Schrank und den Tisch und die Stühle und die Lampe. So viel ich auch wische, ich kriege die schmierige Schicht nicht ab. Vater kommt zurück. Wird rot vor Wut. Zerrt Mutter in die Küche. Wie weit willst du es noch treiben? Kannst du nicht mal die Wohnung sauber halten? Franka, Franka, meine Franka, flüstert Lydia abends im Bett. Ich bin nicht deine Franka. Nicht mehr böse sein. Es war nur Spaß. Nein, das war kein Spaß. Ich höre, wie sie aufsteht. Bleib in deinem Bett! Ich mache mich steif. Meine Füße sind so kalt, jammert Lydia. Zieh dir Socken an! Sie kriecht unter meine Decke, drückt ihre Nase an meine Schulter. Ich rutsche von ihr weg bis an die Bettkante. Franka?, flüstert Lydia. Sei still! Ich hab dich lieb. Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Ich will mich nicht mit Lydia vertragen. Heute nicht. Trotzdem rolle ich mich zu ihr herum. Nehme sie in die Arme. Lydia steckt ihre Füße unter mein Nachthemd. Ich spüre, wie eine Last von mir abfällt. Alles ist leichter, wenn Lydia und ich Freunde sind.
Der Wecker klingelt. Habe kaum geschlafen. Ich stelle ihn ab. Drehe mich auf die andere Seite. Da rüttelt jemand an meiner Schulter.
»Aufwachen!«
Merle steht fertig angezogen vor mir. Es geht nicht. Ich kann nicht.
»Du willst heute mit Mama reden. Wegen der Schule!«
»Merle …«
»Den Tisch habe ich schon gedeckt.«
Ich schlucke.
»Was hast du denn?«
»Ich bin müde«, murmele ich und stehe auf.
Kaffee kochen, duschen, anziehen. Nicht nachdenken.
Merle hat Hunger. Ich nicht. Merle redet über die Schule. Ich schweige.
»Wann gehen wir los?«
Ich schließe die Augen. Du musst es ihr sagen. Gleich im Krankenhaus treffen wir eine Frau. Die sucht ein neues Zuhause für dich.
»Tante Franka, nicht wieder einschlafen.«
Ich öffne die Augen.
»Wann wir losgehen, will ich wissen.«
»Gleich.«
12.
M erle und ich stehen vor Lydias Zimmer.
»Kommst du mit?«, fragt sie.
»Nein, ich …«
»Warum nicht?«
»Ich habe jetzt einen Termin mit jemandem vom Krankenhaus.«
Merle dreht sich brüsk um, öffnet die Tür, verschwindet im Zimmer ihrer Mutter.
Eine junge Sozialarbeiterin. Ich erzähle ihr von Merles Schweigen. Ihrem wachsenden Vertrauen. Ihrem Wunsch, in die Schule zu gehen.
»Wären Sie bereit, für Ihre Nichte zu sorgen, solange Ihre Schwester im Krankenhaus liegt?«
»Ja«, höre ich mich sagen. »Aber wenn meine Schwester sterben sollte …«
Die Sozialarbeiterin winkt ab. »Das wäre eine andere Entscheidung. Jetzt geht es nur um die vorübergehende Versorgung Ihrer Nichte.«
»Meine Schwester wird mit diesem Vorschlag nicht einverstanden sein. Für sie wäre ein Heim die bessere Lösung.«
»Der Meinung bin ich nicht. Wenn sich das Kind an Sie gewöhnt hat und bei Ihnen bleiben möchte, müssen wir das berücksichtigen. Ich werde nachher mit beiden sprechen und eventuell das Jugendamt einschalten.«
Du willst mir das Kind wegnehmen, wird Lydia sagen.
»Was die Frage der Schule angeht, kann es manchmal angebracht sein, Kinder erst mal zur Ruhe kommen zu lassen. Aber wenn Ihre Nichte selbst den Wunsch geäußert hat …«
Du hetzt Merle gegen mich auf.
»Vielleicht ist Ihre Schwester doch einverstanden. Für den Fall brauchen Sie den Ausweis Ihrer Nichte, um sie beim Einwohnermeldeamt anzumelden und eine Vollmacht der Mutter, dass Sie ihre Tochter einschulen dürfen.«
Du willst Fakten schaffen. Das hast du immer gewollt.
»Haben Sie schon eine Vorstellung, welche Schule in Frage käme?«
»Die Grundschule Knauerstraße ist nicht
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