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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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gedacht.«
    »Lydia, ich will nicht mit dir streiten.«
    »Wann hast du je was anderes gewollt?«
    »Sprich noch mal mit Merle. Sag ihr, dass ich es gut mit ihr meine. Bitte. Sie hat es nicht verdient, so unglücklich zu sein.«
    Keine Reaktion. Das begreife ich nicht. Wie bringt Lydia es fertig, ihre Tochter als Bollwerk gegen mich zu benutzen? Sind ihr Merles Gefühle gleichgültig?
    »Du hast meine Telefonnummer. Ruf mich an, wenn du mir etwas über Merles Vater erzählen willst.«
    »Ich weiß nicht, wer ihr Vater ist.«
    Also doch.
    »Und jetzt geh!«
    Ich habe es immer geahnt.
    »Geh!«
    »Kannst du mir wenigstens die Namen derer nennen, die als Vater in Frage kommen?«
    »Nein. Ich habe mit Männern geschlafen, deren Namen ich nie erfahren habe. Es hat mich nicht interessiert. Ich wollte ein Kind, keinen Ehemann.«
    »Warst du damals hier in Hamburg?«
    »Mach dir keine Hoffnungen. Ich war überall. In Spanien, Marokko, Ecuador …«
    »Merle sieht nicht gerade südamerikanisch aus.«
    »Vergiss es. Es gibt keinen Vater, weil es keinen geben sollte.«
    »Hast du nie darüber nachgedacht, wie es für dein Kind sein würde, ohne Vater aufzuwachsen? Und ohne die Chance, jemals zu erfahren, wer dieser Vater ist?«
    »Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.«
    »Jedes Kind hat ein Recht darauf, seinen Ursprung zu kennen.«
    »Ich bin müde …«
    »Was meinst du, an wen man sich wenden wird, falls du sterben solltest und jemand gesucht wird, der für Merle sorgt?«
    »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass es dazu nicht kommen wird?«
    »Lydia, du bist krank, schwerkrank. Du hast Hepatitis C und eine Leberzirrhose. Dein Gesamtbefinden ist schlecht. Menschen sterben an diesen Krankheiten. Wann kapierst du das endlich?«
    »Frau Daniels?«
    Ich drehe mich um. Die Krankenschwester steht an der Tür und sieht mich ärgerlich an.
    »Ich möchte Sie bitten, jetzt zu gehen. Ihre Schwester muss sich ausruhen.«
    »Danke«, flüstert Lydia.
    Was ist passiert? Habe ich geschrien?
    Ich zittere, als ich mit der Schwester zusammen über den Flur laufe.
    »Sie dürfen Ihre Schwester keinesfalls so aufregen. Sonst müssen Sie künftig darauf verzichten, sie zu besuchen.«
    »Sie weiß nicht, wer der Vater ihres Kindes ist, und findet das auch noch gut und richtig. Ich kann es einfach nicht fassen!«
    »Trotzdem darf man eine Schwerkranke nicht anbrüllen, so wie Sie es getan haben.«
    Ich entschuldige mich. Verspreche, dass es nicht wieder vorkommen wird. Aber wie soll ich mich beherrschen?
    »Möchten Sie, dass ich Sie gleich morgen früh um neun für ein Gespräch mit jemandem vom Sozialdienst vormerke? Aufgrund der Dringlichkeit des Falls …«
    »Ja, danke.«
    »Die Sozialarbeiterin wird anschließend auch mit Ihrer Nichte und natürlich mit Ihrer Schwester sprechen.«
    Merle sitzt im Stationszimmer und spielt Quartett mit der Schwesternschülerin. Sie schaut von ihren Karten hoch und dreht mir sofort wieder den Rücken zu.
    »Wir müssen los, Merle.« Meine Stimme klingt wenig überzeugend.
    »Ihre kleine Nichte hat mir von ihrem Leben in Nepal und Indien erzählt«, sagt die junge Schwester. »Erstaunlich, was sie alles schon erlebt hat.«
    Das wüsste ich auch gern. Ich schließe einen Moment lang die Augen. Wie soll es weitergehen? Was soll ich mit Merle machen? Ich ertrage das Schweigen nicht länger.
    Merle will sich nicht von ihren Karten trennen. Die junge Schwester versichert ihr, dass sie beim nächsten Besuch wieder mit ihr Quartett spielen wird. Aber für heute ist Schluss. Sie muss arbeiten. Außerdem wartet die Tante auf sie.
    Vergessen Sie die Tante, würde ich am liebsten sagen.
    Wir gehen zum Fahrstuhl. »Die Ärztin hat mir erzählt, dass du gesund bist. Ich bin sehr erleichtert. Du bestimmt auch, oder?«
    Keine Antwort. Vielleicht ist Merle nicht erleichtert. Vielleicht wäre sie lieber krank, um mit ihrer Mutter in einem Zimmer liegen zu können.
    Schweigend laufen wir zu meinem Wagen zurück. Erst jetzt sehe ich, dass Merle ihre Turnschuhe wieder trägt.
    Sie wirkt noch feindseliger als heute Morgen oder gestern Abend. Ich wundere mich, dass ich bereits verschiedene Arten des Schweigens bei ihr unterscheiden kann. Vielleicht hat sie mitbekommen, dass Lydia und ich uns gestritten haben. Vielleicht hat sie sogar das Wort Vater gehört. Ob sie jemals nach ihrem Vater gefragt hat? Bei dem Gedanken überfällt mich ein Schwindel. Im Falle von Lydias Tod werde ich Merle nicht nur erklären

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