Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
beigem Zackenrand eingefassten Schwarzweißfotos.
Ich kann mich nicht auf meine Zeitung konzentrieren, sehe immer wieder zu Merle hinüber. Vorsichtig blättert sie die Seiten um, jedes Mal streicht sie das dünne Seidenpapier glatt, das hier und da schon eingerissen ist.
Irgendwann blickt sie hoch, vergleicht mich mit der Gestalt auf dem Foto.
Der Tag meiner Einschulung. Auf dem Rücken den Ranzen, im linken Arm die Schultüte, ein starrer Blick in die Kamera.
»Weißt du noch, was in deiner Schultüte war?«
»Wahrscheinlich Süßigkeiten und ein paar Sachen für die Schule.«
»Kein richtiges Geschenk, wie mein Äffchen?«
Ich schüttele den Kopf.
»Waren deine Eltern arm?«
»Nein.«
»Sie lachen nie.«
Merle blättert weiter. Plötzlich wünsche ich, sie würde das Album zuklappen, bevor sie die letzte Seite erreicht. Das Familienporträt. Aufgenommen in einem Fotoatelier im Winter 71.
»Da sieht Mama aber schön aus!«
Zu spät. Merle läuft mit dem Album auf mich zu und hält mir die Seite hin, aus der uns Lydia entgegenlächelt. Sie trägt das gesmokte rosafarbene Kleid, das hier fast weiß aussieht. Dazu weiße Strumpfhosen, schwarze Lackschuhe mit Riemchen, die Haare zu Zöpfen geflochten, die Schleifen passend zum Kleid. Rechts von ihr steht Mutter, im Kostüm mit Hut, am Revers eine Brosche. Sie hat den Arm um Lydias Schultern gelegt und blickt stolz in die Kamera. Ich stehe links neben Lydia. Anderthalb Köpfe größer. Ich schaue auf meine Füße, die dünnen Haare sind viel zu kurz und zu gerade geschnitten. Das dunkle Kleid mit dem weißen Kragen hängt an meinem Körper, meine Stiefel lassen an Einlagen denken. Die Hände wissen nicht wohin. Neben mir steht Vater, im Anzug mit Schlips, die Arme verschränkt. Seine Augen sind geschlossen.
»Bist du das?«, fragt Merle und zeigt auf das Mädchen mit den Stiefeln.
»Ja …«
Sie legt den Kopf schräg und kräuselt die Stirn. »Wolltest du nicht fotografiert werden?«
»Nein.«
»Wie alt ist Mama da?«
»Sechs. Sie sieht dir sehr ähnlich …«
»Ich hab noch nie ein Kleid gehabt.«
»Hättest du gern eins?«
»Mama findet Hosen praktischer.«
»Damals hat sie Kleider geliebt.«
Merle liegt im Bett. Ich stehe im Flur. Sie erzählt Bakul von dem Foto. Ich will sie nicht belauschen, bleibe aber trotzdem stehen. Punkt für Punkt beschreibt Merle das Aussehen ihrer Mutter im Alter von sechs Jahren. Helle Schleifen hat ihre Mama in den Zöpfen getragen. So etwas Schönes hat Bakul noch nie gesehen.
Irgendwann kaufe ich Merle zwei rosa Schleifen. Auch wenn Lydia mich dann als Spießerin beschimpft.
Komm, wir gucken uns Papas Zimmer an, ruft Lydia und greift nach meiner Hand. Da dürfen wir nicht rein, sage ich und will die Hand abschütteln. Er ist doch nicht da, ruft Lydia. Papa merkt alles. Wir sind ganz vorsichtig, sagt Lydia. Du kannst ja allein gehen. Mit dir zusammen ist es schöner. Lydias Augen betteln. Aber nur kurz, sage ich. In Vaters Zimmer ist es dunkel. Ich knipse das Licht an. Die Gardinen sind zugezogen. Schwerer, grüner Samt. Auf dem Schreibtisch türmen sich Aktenordner. In den Bücherregalen biegen sich die Bretter. Auf dem Fußboden liegen Stapel von Mappen, Zeitungen und losen Blättern. Hat Papa alle diese Bücher gelesen?, fragt Lydia. Bestimmt. Sie streicht mit den Händen über die Aktenordner. Was ist da drin? Akten, antworte ich. Und was macht Papa damit? Die liest er. Damit die Leute ihr Recht bekommen. Willst du auch mal so was werden? Weiß ich noch nicht. Schön ist das, sagt Lydia und zeigt auf ein Bild über der Heizung. Ich sehe es zum ersten Mal. Zwei Jungen sitzen am Tisch und spielen Karten. Der jüngere ist vornehm gekleidet, der andere, mit dem Federhut, eher unordentlich. Neben ihnen steht ein bulliger Mann mit Bart. Er schaut dem vornehmen Jungen in die Karten und gibt dem anderen ein Zeichen. Der zieht hinten aus seinem Gürtel eine Spielkarte. Die mogeln, rufe ich. Lydia kichert. Dass Papa sich so ein Bild ausgesucht hat. Der Mann mit dem Bart hat ein kleines Schwert in der Hand, sage ich. Das wird nicht gut ausgehen. Es ist ja nur ein Bild, sagt Lydia. Typisch Lydia. Was macht ihr denn da?, ruft Mutter. Sie steht in der Tür und sieht uns erschrocken an. Ihr dürft hier nicht rein. Lydia wollte nur mal kurz Vaters Zimmer sehen, sage ich. Guck mal, Mama, ruft Lydia. Der Maler hat Leute gemalt, die beim Kartenspiel mogeln. Es mogeln nur zwei, sage ich. Der Junge vorne links merkt nicht,
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