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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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miteinander schlafen, sind wir uns nah genug, dass sich die Anspannung in mir löst und mein Unbehagen schwindet. Jan und ich. Merle und ich. Wir werden einen Weg finden, auf die eine oder andere Weise.

14.
    M erle steuert auf ihr Klassenzimmer zu. Frau Rathjens lächelt. Rote Locken, grüne Augen, höchstens dreißig. Merle schaut sie mit offenem Mund an.
    Um halb zwölf soll ich Merle wieder abholen. Es fällt mir schwer, sie hierzulassen. Ich streiche ihr über den Kopf. Sie zuckt zurück.

    Ich sitze am Schreibtisch. Die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwimmen vor meinen Augen. Wieder nur ein paar Stunden Schlaf. Um drei bin ich aufgestanden, habe in der Küche Radio gehört.
    Merle und Jan am Frühstückstisch. Ihr Lachen versetzte mir einen Stich. Habe ich Angst, dass sie Jan lieber mag als mich?
    Ich wähle Esthers Nummer. Sie ist längst in der Redaktion. Ich spreche eine Nachricht auf ihr Band und beschließe, laufen zu gehen.
    An der Außenalster die üblichen Jogger. Vater lief immer morgens um sechs. Zwölf Kilometer. Auch an jenem schwülen Tag Anfang August. Ich war zweiundzwanzig. Wohnte seit drei Jahren in einem eigenen Zimmer. Studierte, jobbte, reiste. Das Telefon klingelte. Mutters Stimme. Dein Vater ist tot. Ein Herzinfarkt. Wochenlang konnte ich nicht essen, nicht schlafen, nicht arbeiten. Selbst das Sprechen fiel mir schwer. Reiß dich zusammen, sagte Mutter. Du bist nicht die Einzige, die trauert.
    Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, nehme einen Schluck aus meiner Wasserflasche. Lydia erfuhr erst viel später, was geschehen war. Im Sommer und Herbst ’83 war sie wieder unauffindbar, lebte mit fremden Leuten. Kein Lehrer, kein Mitschüler konnte uns sagen, wo sie sich aufhielt. Seit Monaten ging sie nicht mehr zur Schule. Sie war achtzehn. Wir hatten es aufgegeben, die Polizei nach ihr suchen zu lassen. Deine Schwester hat Vaters Tod auf dem Gewissen, pflegte Mutter voller Wut zu sagen. Aber die Wut verschwand schnell wieder, als Lydia im Winter abgemagert zu Hause auftauchte und gepflegt werden wollte. Sie ist so labil, deine Schwester, sagte Mutter und kochte Hühnersuppe, weil Lydia Hühnersuppe am liebsten aß. Damals sprach ich schon lange nicht mehr mit Lydia.
    Ich stolpere über eine Baumwurzel. Kann mich gerade noch fangen. Ich laufe schneller. An nichts anderes denken als an den Atem, die Beine und das Aufsetzen der Füße. Ich finde meinen Rhythmus nicht wieder.
    In der Wohnung lasse ich mich auf den Teppich fallen, strecke die Beine aus. Nach einer Dehnungsübung gebe ich auf. Mache die Augen zu. Vater war fünfundfünfzig. Viel zu jung. Ich konnte den Verlust nicht verwinden. Warum fiel es mir so schwer, seinen Tod hinzunehmen? Hatte ich immer noch gehofft, dass seine Liebe eines Tages mir und nicht nur meinen guten Leistungen gelten würde?

    Ich betrete ein Spielwarengeschäft, frage nach Stofftieren. Bären in allen Größen und Farben, Hasen, Elefanten, Nilpferde, Krokodile, Pinguine, Giraffen, sogar ein Tintenfisch. Den kleinen Affen entdecke ich erst, als ich schon gehen will. Er hat kein schwarzes Gesicht und gleicht auch sonst nicht dem Äffchen bei Hagenbeck. Der Schimpanse werde nicht so gern genommen, sagt die Verkäuferin. Sie könne mir den Tiger empfehlen. Auch die Kängurus seien zurzeit sehr begehrt. Aber von Tigern und Kängurus war bisher nicht die Rede. Das Äffchen hat Merle zum Sprechen gebracht.
    Ich greife nach dem Affen und gehe zur Kasse. Achtzehn Euro fünfzig, Umtausch nur gegen Quittung. Ob es ein Geschenk sei. Ich nicke. Das blauglitzernde Papier mit der silbernen Schleife gibt es umsonst.

    Vor der Schule stehen lauter junge Mütter und einige Väter. Babys schlummern in Tragesäcken. Kleinkinder mit Schnuller zappeln in ihren Wagen. Man tauscht sich aus über Lehrer und Methoden. Eine besorgt blickende Frau spricht von Verkehrserziehung. Ich könnte mich dazustellen und herausfinden, was seit der Einschulung vor anderthalb Wochen gelernt wurde. Nein, keine Fragen nach meinem Kind, das nicht mein Kind ist. Keine Erklärungen für Wohnorte außerhalb Europas.
    Das Klingeln ist weniger laut und schrill, als ich es von meiner Schule im Ohr habe. Kurz darauf strömen unzählige Kinder aus dem Gebäude, kleine und große, allein und in Gruppen. Alle tragen einen Ranzen, wie auch wir ihn besorgt haben. Da wird begrüßt und geküsst, geschrien und gelacht. Babys beginnen zu weinen, als müssten sie so die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken.
    Ich

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