Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Will die Klinik verlassen, ohne Lydia zu besuchen. Doch nur wieder Streit. Merle sei noch bei ihrer Mutter, sagt die Stationsschwester.
Ich warte. Sie kommt nicht. Ich klopfe an. Diesmal werde ich hereingerufen.
Merle sitzt auf dem Fußboden vor Lydias Bett und packt ihre Schulsachen in den Ranzen. Schmale Lippen, kleine Falte auf der Stirn.
»Die Schule war wohl bisher ein Erfolg«, sagt Lydia und sieht mich aus ihren halbgeöffneten Augen an.
Ich nicke.
»Auch wenn es alles andere als spannend klingt, was da unterrichtet wird.«
»Ich finde es spannend«, ruft Merle. »Und Elisa auch. Schule ist schön.«
Lydia will etwas entgegnen. Ich schaue sie an. Sie hält den Mund.
Das Nachbarbett ist frisch bezogen. Ist die Frau gestorben?
Merle lässt sich von mir helfen, den Ranzen aufzusetzen. Ihr Blick fällt auf meine Tasche, in der das Äffchen steckt. Ich habe vor Betreten des Zimmers den Reißverschluss zugezogen.
Wenn Merle Lydia das Äffchen zeigen will, muss sie es mir sagen. Nein, sie sagt nichts.
»Komm, Merle.« Lydia richtet sich auf und nimmt sie in die Arme. »Ich freu mich ja für dich.«
»Sollst du auch, sonst erzähl ich dir nichts mehr.« Merle dreht sich um und geht hinaus.
»Es war ein wichtiger Tag für sie«, sage ich leise.
»Manchmal fällt es mir schwer, zu sehen, wie Merle immer größer wird.«
Lydia scheint mehr mit sich selbst als mit mir zu reden. Ihre Stimme klingt weich und verletzlich.
»Es kommt mir vor wie der Anfang eines Abschieds.«
»Merle wird dich noch lange brauchen.«
Wir verfallen in Schweigen. Soll ich ihr sagen, wie erleichtert ich bin, dass Merle begonnen hat, mit mir zu sprechen und meine Wohnung als ihr vorübergehendes Zuhause zu akzeptieren? Nein, das wäre schon zu viel. Lydia würde es mir als Triumph auslegen und sofort wieder zum Angriff übergehen. Sie hat längst zur Kenntnis genommen, dass Merle sich bei mir wohl fühlt und erträgt es, solange es nicht thematisiert wird. Das sind die Spielregeln. Merle verbirgt ihr Äffchen. Und ich kann Lydia nicht zeigen, wie sehr ich ihre Tochter mag.
»Ist dein Freund tatsächlich Pianist?«
Ich zucke zusammen. »Ja. Wieso?«
»Merle hat mir von seinem Flügel erzählt.«
»Der hat sie beeindruckt.«
»Dein Freund hat sie nicht darauf spielen lassen.«
»Mit seinem Flügel ist er sehr eigen.«
»Mich hat das Verbot nicht überrascht. So wie dieser Mann aussieht.«
»Du hast ihn doch nur kurz gesehen.«
»Ich erinnere mich genau an den weinroten Baumwollschlafanzug mit den kurzen Hosen und an seine Haare. Einen Pianisten stelle ich mir ganz anders vor. Mindestens langhaarig und in fließenden Gewändern aus Seide.«
»Das hat dich jedenfalls nicht gestört, als er dich aufs Sofa getragen und den Krankenwagen gerufen hat«, sage ich und verlasse das Zimmer.
17.
D urch die offene Küchentür sehe ich Jan am Herd stehen und in einem Topf rühren. Merle verteilt Hackfleischsauce auf den Lasagnescheiben. Ihre Zungenspitze wandert von einer Ecke des Mundes in die andere.
Ich gehe weiter.
»Das hast du wunderbar gemacht!«, höre ich Jan sagen.
»Ich hab schon oft gekocht«, erwidert Merle. »Mit meiner Mama, in Nepal.«
Wird sie ihm gleich auch von Dave erzählen und von den anderen Männern, die lange nicht so nett waren wie Dave?
Ich schließe die Wohnzimmertür und setze mich an den Schreibtisch.
Trotzdem höre ich noch Merles Lachen und spüre wieder diesen Stich.
Um zehn nach neun sitzen wir am Tisch.
»Keine geeignete Abendbrotzeit für ein Schulkind«, sage ich.
Jan zieht die Augenbrauen hoch.
Merle und er sprechen über das Bilderbuch, aus dem er ihr vorgelesen hat, über ihr gemeinsames Murmelspiel, über Bakul, der an allem teilgenommen hat.
»Jan hat mir auch gezeigt, wie man eine Note malt«, verkündet Merle.
»Wie schön.«
Ich wünsche, ich könnte aus meiner Haut schlüpfen und mich darüber freuen, dass Jan ein Kinderfreund ist und Merle ihn ins Herz geschlossen hat.
Sie liegt im Bett, das Äffchen im Arm.
»Gute Nacht, Merle.«
»Bist du traurig?«
Ich schüttele den Kopf. Mache die Tür hinter mir zu. Gehe zu Jan zurück in die Küche.
»Was ist los mit dir?«, fragt er.
»Ich bin erschöpft.«
»Nach Erschöpfung sah das vorhin bei Tisch nicht aus. Eher nach Missgunst.«
Ich schweige.
»Soll Merle ein schlechtes Gewissen bekommen, nur weil sie sich mit mir gut versteht?«
»Unsinn.«
»Was schlägst du vor? Würde es dich erleichtern, wenn ich nach
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