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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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Gesicht hat.

    Ich bin vier. Lydia schläft in Mutters Armen. Rot und schrumpelig sieht sie aus. Wie eine alte Mohrrübe. Auf dem Kopf hat sie kleine, dunkle Haarinseln. Da ist sie, unsere Lydia, flüstert Oma. Als ob ich das nicht wüsste. Sie war doch in Mutters Bauch. Viele Monate lang. Jetzt klappt sie die Augen auf und fängt an zu schreien. Sie hat Hunger, sagt Mutter. Oma nimmt meine Hand, und wir gehen auf den Flur. Dabei sind wir gerade erst gekommen. Was machen sie da drin?, frage ich. Mutter gibt Lydia zu trinken, antwortet Oma. Dafür brauchen beide etwas Ruhe. Wir können doch ruhig in der Ecke sitzen. Nein, Lydia darf nicht abgelenkt werden, sagt Oma. Dann trinkt sie nicht genug. Oma gibt mir meine Puppe. Ich kämme ihre Haare und flechte ihr einen schönen Zopf. Puppen sind viel besser als Schwestern. Sie haben lange Haare. Oma öffnet die Tür und macht sie gleich wieder zu. Lydia hat noch nicht genug getrunken. So lange brauche ich nicht mal für ein Sonntagsessen mit Nachtisch. Irgendwann dürfen wir endlich rein. Lydia schläft schon wieder in Mutters Armen. Ist sie nicht wonnig?, sagt Mutter und streichelt Lydias Haarinseln. Was soll ich sagen? Sie sieht aus wie eine Mohrrübe? Willst du sie mal halten?, fragt Mutter. Ich weiß nicht. Komm. Ich setze mich aufs Bett. Mutter legt mir das kleine Bündel in den Schoß. Es ist ganz leicht, fast so leicht wie meine Puppe. Ich verstehe nicht, warum er das Baby nicht sehen will, zischt Oma Mutter ins Ohr. Das ist doch nicht normal für einen Vater. Nicht vor dem Kind, zischt Mutter zurück. Ich streiche Lydia mit dem Zeigefinger über die faltige, rote Stirn, die winzige Nase und den Mund. Er sieht aus wie ein Marzipanherz. Lydia öffnet die Augen und blickt mich an. Sie lächelt, sage ich. So kleine Babys können noch nicht lächeln, sagt Oma. Meine Lydia, flüstere ich ihr ins Ohr, meine kleine Lydia.
    Von dem Moment an habe ich sie geliebt. Ihre dunklen Haarinseln und das kleine Mohrrübengesicht. Wenn jemand mich fragte, ob das meine Schwester sei, nickte ich, strahlend vor Glück.

    Merle singt. Das englische Wiegenlied. Ich bleibe an der Schlafzimmertür stehen. Sehe das Äffchen unter der Bettdecke liegen.
    Merle streicht ihm über den Kopf. »Er heißt Bakul und muss jetzt schlafen.«
    »Bakul?«
    »Mein Freund in Indien hieß Bakul. Er wohnte hinter dem Bahnhof.«
    »In welcher Stadt?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Delhi?«
    »Kann sein. Sie war groß und heiß. Und die Affen saßen auf der Brücke und schnappten den Leuten die Brillen weg.«
    »Und wie hast du Bakul kennengelernt?«
    »Auf dem Markt. Sein Vater hatte den Stand neben unserem. Er hat Stoff verkauft.«
    »Und ihr, was habt ihr verkauft?«
    »Schmuck.«
    »Was für Schmuck?«
    »Ringe und Halsketten und Armbänder aus silbernem Draht und bunten Perlen. Hat Mama selbst gemacht.«
    »Aha …«
    Sie blickt mich streng an. »Schön war der, sehr schön.«
    »Wie alt war Bakul?«
    »Fünf. So alt wie ich.«
    »Hatte der auch ein Äffchen?«
    »Er hatte eine Kobra.«
    »Eine Kobra? Mit fünf?«
    »Sie wohnte in einem Korb mit Deckel. Wenn Bakul Flöte gespielt hat, wurde der Deckel abgenommen. Und die Kobra hat getanzt.«
    Merle gibt dem Äffchen einen Kuss, steht auf, geht auf Zehenspitzen zur Tür.
    »In deinem Alter war ich noch nie im Ausland«, sage ich, als Merle die Tür hinter sich geschlossen hat. »Höchstens mal an der Ostsee.«
    »Wo ist die Ostsee?«
    »Nicht weit von hier, eine gute Stunde mit dem Auto.«
    »Ich mag Seen.«
    »Es ist sogar ein Meer.«
    »Das mag ich noch lieber.«
    »Vielleicht fahren wir da mal hin.«
    Merle überlegt. »Wenn Mama wieder gesund ist.«
    Eine klare Grenze. Ich soll nicht glauben, dass ich mit Merle Reisen unternehmen kann, nur weil sie bei mir wohnt.

15.
    M erle steht vor meinem Bücherregal. Es ist halb neun. Sie müsste längst im Bett sein.
    Langsam fährt sie mit dem Zeigefinger über die Buchrücken. Bei dem fleckigen, grauen Leineneinband des Albums macht sie halt, sieht mich bittend an. Weiß sie, dass sich darin Fotos verbergen? Ich zögere.
    »Darf ich das angucken?«
    Ich ziehe das Album aus dem Regal und schlage die erste Seite auf. Mutters steife Schrift. Die glückliche Kindheit unserer Töchter Franka und Lydia (1. Teil: 1961–1971). Der zweite Teil muss verlorengegangen sein, wenn es ihn jemals gegeben hat.
    Ich lese ihr den Text vor. »Das hat deine Oma geschrieben.«
    Merle setzt sich aufs Sofa und betrachtet die kleinen, mit

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