Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
werde unruhig. Wo bleibt Merle? Ist ihre Begeisterung in Enttäuschung umgeschlagen? Ist sie längst auf und davon? Mir wird schwindelig. Hat die Schule vergeblich versucht, mich zu erreichen? Ist wertvolle Zeit verloren gegangen, weil ich an diesem Vormittag gelaufen bin und mich mit der Auswahl eines Stofftiers beschäftigt habe?
Nein, da ist sie. Ich atme tief durch. Neben Merle läuft ein Mädchen mit einem blonden Pferdeschwanz. Die beiden flüstern und kichern. Als Merle mich entdeckt, greift sie nach der Hand des Mädchens und rennt mit ihm auf mich zu.
»Das ist Elisa«, sagt sie stolz. »Wir sitzen nebeneinander.«
Ich begrüße Elisa. Sie strahlt mich an und berichtet ihrer Mutter, die jetzt auf uns zutritt, dass Merle in Nepal gelebt hätte, ihre Mutter im Krankenhaus sei und sie deshalb bei ihrer Tante Franka wohne. Die junge Frau lächelt mich an. Nun sei sie über das Wesentliche bereits informiert, sage ich und stelle mich vor.
»Merle ist schon sieben«, verkündet Elisa. »Und sie hat bisher fast nie Schuhe angehabt.«
Auch diese Mitteilung kann Elisas Mutter nicht erschüttern. Wir tauschen Telefonnummern aus.
Frau Rathjens kommt uns im Flur entgegen. Merle werde keine Probleme haben, sich einzuleben. Im Gegenteil. Ihre offene Art habe allen sofort gefallen. Und eine wunderbare Stimme habe sie, ganz klar und hell.
»Die hat sie von ihrer Mutter.«
Frau Rathjens öffnet den Mund. Nach einem Seitenblick auf Merle schließt sie ihn wieder. Dafür erzählt Merle umso freier vom kranken Bauch ihrer Mutter. Ich sehe das Entsetzen in den Augen von Frau Rathjens.
»Mama bekommt vielleicht eine neue Leber.«
»… Das ist eine sehr schwere Operation.«
»Aber wenn die alte Leber doch kaputt ist?«
Merle klingt ganz pragmatisch. Ihre Angst von vorgestern Abend scheint verschwunden. Wird sie Frau Rathjens demnächst auch erzählen, dass ihre Mutter sich in ihrer Jugend Drogen gespritzt hat? Ich kann es nicht verhindern. Vielleicht hilft es Merle, keine Geheimnisse haben zu müssen.
»Wir wollen hoffen, dass es deiner Mutter bald wieder besser geht«, sagt Frau Rathjens zum Abschied.
Auf dem Nachhauseweg erzählt Merle mir von den anderen Kindern in der Klasse. Die beiden Zwillingsjungen würden alle immer verwechseln. Das indische Mädchen sei noch nie in Indien gewesen. Und ein Junge habe geweint, weil er sein Butterbrot vergessen hätte.
»Und ich habe dir gar keins gemacht. Du hast sicher Hunger.«
»Elisa hat mich von ihrem abbeißen lassen. Sie hatte Salami drauf.«
Ich wünsche, Lydia könnte sie sehen.
Der Einfachheit halber koche ich wieder Spaghetti mit Tomatensauce. Ein warmes Mittagessen hat es bisher in meinem Leben nicht gegeben. Ich war mit Käsebroten und Salat zufrieden.
»Ab wann darf ich nachmittags in die Spielgruppe?«
»Wenn du willst ab morgen.«
»Und was wird Mama sagen?«
»Sie wird sich freuen.« Ich versuche, zuversichtlich zu klingen. »Du musst ihr nur erzählen, dass dir die Schule gut gefällt und du schon eine Freundin gefunden hast.«
Merle nickt und blickt nachdenklich auf ihre Füße. »Elisas Papa wohnt nicht in Hamburg.«
»Aha …« Ich spüre, wie meine Hände feucht werden. »Wo lebt er denn?«
»In Berlin, mit einer neuen Frau und einem Baby. Elisa mag die Frau nicht.«
Gleich werden sie kommen, die Fragen nach ihrem Vater. Wo der eigentlich sei. Ob ich ihn kennen würde. Und warum sie ihn bisher noch nie gesehen habe.
Nein. Merle steht auf, räumt das Geschirr mit ab. Vielleicht weiß sie längst Bescheid. Oder sie fragt nicht, weil sie Angst vor den Antworten hat.
»Ich habe eine Überraschung für dich«, sage ich und ziehe das blauglitzernde Päckchen aus meiner Tasche.
Merle blickt mich ungläubig an. »Aber heute ist nicht mein Geburtstag.«
»Es ist ein Geschenk zum Schulanfang. Die anderen Kinder in deiner Klasse haben sicher an ihrem ersten Schultag eine Schultüte bekommen.«
»Was ist eine Schultüte?« Merle dreht und wendet das Päckchen und streicht vorsichtig über das Papier.
»Eine große, spitze Papptüte mit kleinen Geschenken und Süßigkeiten.«
Vielleicht kann Merle mit einem Stofftier gar nichts anfangen. Vielleicht hätte ich bunte Haarspangen, Abziehbilder und Schokoriegel kaufen sollen.
Jetzt löst sie das letzte Stück Tesafilm. Ich halte die Luft an.
»Ein Äffchen! Ein Äffchen!«
Merle fällt mir um den Hals, drückt mich, betrachtet selig den kleinen Affen. Es macht nichts, dass er kein schwarzes
Weitere Kostenlose Bücher