Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
dass er betrogen wird. Ganz schön blöd, murmelt Lydia. Plötzlich höre ich den Schlüssel in der Wohnungstür. Mutter verschwindet in Richtung Toilette. Komm, sage ich und schiebe Lydia vor mir her in den Flur. Wir stoßen an einen Stapel mit Aktenordnern. Krachend fällt er zu Boden. Lydia schlägt vor Schreck die Hand vor den Mund. In dem Moment stürzt Vater ins Zimmer. Was macht ihr hier? Er verpasst uns beiden eine Ohrfeige. Meine Wange brennt. Abends steht Lydia am offenen Fenster. Es schneit, der Wind bläst eiskalt in unser Zimmer. Komm ins Bett, sage ich. Sie rührt sich nicht. Ich friere sogar unter meiner Decke. Am nächsten Tag hat Lydia hohes Fieber. Der Arzt kommt und horcht sie ab. Irgendwann fängt Mutter an zu beten. Es dauert lange, bis Lydia wieder gesund ist. Mutter schenkt ihr zum Trost rosa Schleifen.
16.
A bends um halb elf klingelt das Telefon. Esther beglückwünscht mich zu meiner Entscheidung, Merle bei mir zu behalten.
»Vorerst«, sage ich.
Auch Esther findet Merles Schulalltag zu lang.
»Du kennst Merle nicht«, sage ich.
»Nach dem, was sie durchgemacht hat …«
»Jedes Kind ist anders.«
»Trotzdem …«
»Wir probieren es so aus«, sage ich, eine Spur zu heftig.
Eine Hand auf meiner Schulter. Ich öffne die Augen. Vor mir steht Merle. Sie ist fertig angezogen. Das Äffchen liegt in ihrem Arm.
»Wie spät ist es?«, murmele ich.
»Weiß ich nicht.«
Zehn nach sieben. Ich habe den Wecker überhört. Zum ersten Mal seit Jahren.
Beim Frühstück verkündet Merle, dass Bakul mit in die Schule solle. Sie werde kaum Zeit haben, sich um ihn zu kümmern, sage ich.
Merle zögert. Ich würde regelmäßig nach ihm sehen, verspreche ich. Sie gibt nach.
Frau Rathjens zeigt uns, wo mittags gegessen und nachmittags gespielt wird.
Ich nehme Merle in die Arme. Sage ihr, dass sie jederzeit jemanden bitten könne, mich anzurufen.
»Warum?«
»Falls ich dich früher abholen soll.«
»Sollst du nicht.«
Viertel vor neun. Ich klappe meinen Laptop auf. Vor mir liegen sieben freie Stunden. Ich werde konzentriert arbeiten. Nicht telefonieren, keine E-Mails beantworten.
Beim Lesen des Exposés spüre ich eine merkwürdige Distanz zu meinem Krimi über Babyhandel. Es kommt mir vor, als hätte ich mich zuletzt vor vielen Monaten und nicht vor wenigen Tagen mit dem Thema beschäftigt. Heute scheinen mir die Kritikpunkte der Redakteurin stimmig. Sie fände die Geschichte zu vorhersehbar, schreibt sie. Täter und Opfer seien zu eindimensional, dem Ganzen fehle eine emotionale Tiefe. Natürlich leide man als Zuschauer mit den kinderlosen Paaren, die sich um jeden Preis ein Baby wünschen, aber das allein genüge nicht.
Ich versuche, in der Hierarchie der Täter größere Abstufungen vorzunehmen und den Figuren komplexere Persönlichkeiten zu geben, aber keine der Varianten überzeugt mich. Auch ein komplizierterer Plot mit zusätzlichen Verwicklungen wirkt konstruiert. In mir steigt Panik hoch. Entgleitet mir die Geschichte?
Halb vier. Ich habe nichts geschafft. Und noch nichts gegessen. Ein Käsebrot im Stehen. Das Telefon klingelt. Es ist Jan. Ich lasse ihn auf Band sprechen. Ob wir heute Abend Appetit auf Lasagne hätten. Er könne für uns kochen. Hier bei mir. Soll er nur.
Unten im Hausflur fällt mir das Äffchen ein. Ich laufe wieder nach oben, ziehe es unter der Bettdecke hervor, stecke es in meine Tasche.
Um fünf nach vier komme ich an der Schule an. Merle ist nirgendwo zu sehen. Ich stürze in das Gebäude. Erinnere mich nicht, wo der Raum der Spielgruppe ist.
In dem Moment höre ich Merles Lachen. Sie biegt um die Ecke, läuft auf mich zu. Ich fange sie auf, drehe mich mit ihr im Kreis, einmal, zweimal, dreimal.
»Wo ist Bakul?«
Ich ziehe das Äffchen aus der Tasche.
»Gehen wir jetzt zu Mama?«
Ich nicke. Eis essen wäre mir lieber.
Auf dem Stationsflur bleibt Merle stehen, betrachtet das Äffchen in ihrem Arm.
»Bakul muss bei dir bleiben«, sagt sie und reicht mir das Äffchen. »Sonst wird sein Bauch auch noch krank.«
Erst die Turnschuhe. Jetzt das Äffchen.
Die Turnschuhe behält sie diesmal an.
Ich sitze bei der Ärztin im Zimmer. Sie berichtet, dass Lydia jetzt auf die Medikamente gut anspreche. Ihre Laborwerte hätten sich stabilisiert, sie habe besser geschlafen, sei insgesamt ruhiger geworden und wirke sehr zuversichtlich.
»An Zuversicht hat es ihr noch nie gemangelt.«
Die Ärztin blickt mich verwundert an. »Eine positive Grundhaltung ist bei
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