Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
einer schwerkranken Patientin nicht zu unterschätzen. Wenn sie sich aufgegeben hätte, würde das ihre Überlebenschancen nicht gerade erhöhen.«
Die Strenge in der Stimme.
»Ich meine damit, dass sie oft genug in ihrem Leben die Tatsachen verkannt hat. Noch am Samstag sagte sie mir, dass sie nur zu Kräften kommen müsse, dann würde sie ihre Tochter holen und mir nie mehr zur Last fallen.«
Die Ärztin lächelt. »Nein, so einfach ist es natürlich nicht. Ohne Lebertransplantation wird Ihre Schwester mittelfristig nicht überleben.«
»Halten Sie die Operation jetzt für möglich?«
»Da sind noch viele Fragen zu klären. Nicht nur das physische Befinden Ihrer Schwester, sondern auch ihre Einstellung zur Sucht.«
»Wieso? Sie sagten doch, dass sie nicht mehr drogenabhängig ist.«
»Ja. Trotzdem muss sie unsere Bedingungen akzeptieren. Wir erwarten, dass sie einen Behandlungsvertrag mit uns abschließt, in dem sie erklärt, clean zu sein und uns gleichzeitig die Erlaubnis erteilt, jederzeit Stichproben und Kontrolluntersuchungen durchzuführen.«
Darauf wird sie sich nicht einlassen.
»Und sie muss einer psychologischen Betreuung zustimmen, damit Ursachen und Verlauf ihrer Sucht festgestellt werden und ihre soziale Situation vor und nach der Operation analysiert wird.«
»Das wird sie nie tun.«
»Wer weiß? Wenn sie begreift, dass sie nur auf diesem Wege eine Chance hat zu überleben, wird sie anfangen, darüber nachzudenken.«
»Und was ist, wenn sie den Vertrag nicht unterschreibt?«
»Dann wird sie erst gar nicht auf die Warteliste gesetzt. Unsere Patienten müssen hundertprozentig mit uns kooperieren. Spenderorgane sind knapp.«
Die Ärztin sieht mich an, als überlege sie, wie viele Informationen sie mir noch zumuten will.
»Für den Fall, dass meine Schwester mit Ihnen kooperiert … wie lange müsste sie auf die Operation warten?«
»Die Wartezeit ist abhängig von der Klassifikation des Patienten und seiner Gesamtsituation. Jemand, der im Prinzip noch lebensfähig ist, wenn auch mit Einschränkungen, wird niedrig eingestuft. Da kann es Jahre dauern, bis er eine Lebertransplantation bekommt. Bei einer akuten Bedrohung wird der Patient hoch eingestuft, aber auch dann beträgt die Wartezeit im Schnitt noch ein bis anderthalb Jahre.«
»So lange? Auf eine akute Bedrohung müsste doch schneller reagiert werden.«
»Die höchste Alarmstufe, bei der innerhalb von 24 Stunden operiert werden muss, gilt bei Vergiftungen und Unfällen, aber nicht bei langen Krankheitsverläufen wie Hepatitis C und Leberzirrhose. Da muss der Patient unter Umständen eine sehr herabgesetzte Lebensqualität in Kauf nehmen. Es kann auch passieren, dass er stirbt, bevor ein geeignetes Spenderorgan gefunden wird. Einer der wichtigsten Faktoren in diesem Zusammenhang ist die Blutgruppenverträglichkeit.«
»Lässt sich … der Prozess beschleunigen, zum Beispiel durch … private finanzielle Mittel?«
Die Ärztin runzelt die Stirn.
Wie komme ich dazu, so etwas vorzuschlagen? Will ich etwa mein Erspartes opfern, um Lydia eine neue Leber zu verschaffen?
»In Europa ist der Handel mit Organen illegal«, höre ich die Ärztin sagen.
»Natürlich …«
»Jeder Patient muss auf einer Transplant-Liste stehen, die wiederum beim Eurotransplant gemeldet wird.«
»Es tut mir leid … Ich wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass ich …«
»Ich verstehe Ihre Sorge«, unterbricht sie mich. »Sie sind nicht die Erste, die mir diese Frage stellt. Manchmal hat ein Patient auch Glück und es geht wesentlich schneller. Wichtig ist, dass sich die Patienten und ihre Angehörigen keine übertriebenen Hoffnungen machen. Wenn es anders kommt, umso besser.«
Ein bis anderthalb Jahre. Das schaffe ich nicht.
»Hat Ihre Schwester Ihnen inzwischen etwas zur Vaterschaft ihres Kindes gesagt?«
»Sie weiß nicht, wer der Vater ist.«
»Könnten Sie sich vorstellen, für Ihre Nichte zu sorgen, falls Ihre Schwester stirbt?«
Ich schweige.
»Im Augenblick lebt sie bei Ihnen?«
»Ja.«
»Wie kommen Sie mit ihr zurecht?«
»… Inzwischen ganz gut … Ich habe sie vorgestern in einer Schule angemeldet.«
»Sie planen also schon etwas längerfristig.«
»Merle ist sieben und hat noch nie eine Schule besucht.«
»Sie sieht jünger aus, so klein und dünn wie sie ist. Aber ein aufgewecktes Kind. Ihre Schwester ist sehr stolz auf ihre Tochter.«
»Das kann sie auch sein.«
Ich verlasse das Arztzimmer. Sehe mich nach Merle um.
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