Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
hier, auf dem Krankenhausflur. Es riecht nach einem scharfen Putzmittel. Die Schwester schaut mich skeptisch an. Will sie prüfen, ob ich auch ein Junkie bin? Lydia Daniels, seufzt sie. Das war knapp. Ich weiß, sage ich. Bleiben Sie nicht so lange. Bestimmt nicht, sage ich und betrete das Zimmer. Ich zucke zusammen. Das soll Lydia sein, dieses Gerippe aus Haut und Knochen? Ihr Gesicht ist grau, die Haare sind stumpf, die Augen ohne Glanz. Ich will dich nicht sehen!, sagt Lydia. Mutter meinte, ich sollte dich besuchen, sage ich. Hast du nicht gehört? Du bist hier nicht willkommen!, sagt Lydia. Wolltest du dir zu deinem zwanzigsten Geburtstag den goldenen Schuss verpassen, oder was?, frage ich. Du hast ja keine Ahnung!, schreit Lydia. Geh weg! Aber musste es unbedingt auf einer Bahnhofstoilette sein?, frage ich. Gibt’s da nicht schönere Orte? Geh!!!, schreit Lydia. Da steht schon die Schwester neben mir und greift nach meinem Arm. Kommen Sie bitte! Ich folge ihr zur Tür, ohne mich umzudrehen, und wünsche nur, Lydia wäre tot.
Merle schläft in Gregors altem Zimmer. Jan ist auch schon ins Bett gegangen.
»Ich habe es nicht geschafft«, sagt Lydia.
»Was?«, frage ich.
»Merle eine gute Mutter zu sein.«
»Doch.«
»Wie kannst du das sagen, nach all dem, was heute passiert ist?«
»Heute haben wir beide versagt.«
»Na siehst du.«
»Trotzdem hast du es geschafft! So unstet euer Leben auch war, du hast Merle eine große Stärke vermittelt.« Lydia sieht mich aus ihren halbgeöffneten Augen an. Glaubt sie mir nicht?
»Einfach dadurch, dass du so bist, wie du bist.«
»Und wie bin ich?«
»All das, was ich nicht bin … spontan, offen, emotional, flexibel …«
»Chaotisch.«
»Auch das.«
»Ich hatte immer Angst, Merle könnte so haltlos werden wie ich früher war.«
»Nein«, sage ich. »Merle hat mehr Halt als wir beide zusammen.«
»Ja …« Lydia runzelt die Stirn. »Manchmal ist mir das richtig unheimlich. Sie hat schon mit vier oder fünf Jahren angefangen, auf mich aufzupassen.«
Vielleicht hat sie das von ihrem Vater.
»Ich weiß, was du sagen willst«, murmelt Lydia. »Seit einiger Zeit bereue ich es, dass ich nicht weiß, wer ihr Vater ist …«
Ich schaue sie an. Sie weicht meinem Blick nicht aus.
»Meine Freiheit ging mir über alles, bloß keine Bindung eingehen …«
Esthers Worte. Dieselbe Sehnsucht. Nur eure Wege sind unterschiedlich.
»Kennst du das?«, fragt Lydia.
Ich nicke.
»Mit Chris ist es anders.«
»Mit Jan auch.«
31.
J an ist noch wach. Ich erzähle ihm von den letzten Stunden. Spüre auf einmal meine Erschöpfung.
»Als ihr bei mir ankamt, habe ich sofort gesehen, dass sich irgendwas in dir gelöst hat«, sagt Jan.
»Wenn Merle nicht verschwunden wäre, hätte es dieses Gespräch zwischen Lydia und mir vielleicht nie gegeben.«
»Ich glaube doch. Ihr habt euch in letzter Zeit schon sehr viel sagen können.«
»Es gab mehrere Rückschläge.«
»Damit wirst du bei Lydia immer rechnen müssen.«
»Ich vertraue ihr wieder. Und sie mir auch.«
»Trotzdem …«
»Meinst du das Wohnproblem?«
»Nein, das wird sich irgendwie klären lassen.«
»Was für Rückschläge dann?«
»Ich habe das Gefühl, dass Lydia auf sehr dünnem Eis läuft.«
»Glaubst du, es geht ihr wieder schlechter? Die Werte waren in Ordnung.«
»Ich weiß nicht, was es ist …«
»Jan soll mitkommen zur Wohngruppe«, sagt Merle am nächsten Morgen.
Keiner widerspricht.
Judith empfängt uns mit den Worten, dass sie sich was überlegt habe. Merle kräuselt die Stirn.
»Lydia und ich könnten die Zimmer tauschen. Wenn sie in meinem nachts schreit, hört Katja es nicht.«
»Das würdest du tun?«, fragt Lydia.
»Am liebsten sofort, damit hier wieder Ruhe einkehrt.«
Lydia nimmt Merle in die Arme. »Gehst du zu Tante Franka zurück?«
Merle nickt. »Und ich bleib in meiner Schule.«
»Ja«, sage ich. »Aber eins musst du mir versprechen …«
»Was?«
»Dass du nicht mehr in Schweigen verfällst, wenn du dich über mich ärgerst.«
»Du weißt ja, das macht sie mit mir auch«, sagt Lydia. »Es geht vorbei.«
»In Nepal hab ich mal eine ganze Woche lang nicht mit Mama geredet«, ruft Merle.
»Warum?«
»Weil ich nicht wollte, dass sie mit diesen Männern weggeht. Dann hat sie Dave gefragt, ob er uns das Geld für die Flugtickets leiht.«
Lydia streicht Merle über die Haare. »Jeder hat seine Art, sich durchzusetzen.«
»Na ja«, sage ich und füge nicht hinzu,
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