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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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nicht unziemlich durch den Lauf urbanen Lebens vergiftet werden sollten. Er ging schnell, fast im Trab, bis die Stadt zu beiden Seiten spärlicher besiedelt war und damit ihre Grenzen erreichte, und er wandte sich der Nordstraße zu. Hier mußte er langsamer gehen und aufpassen. Überall konnten die Gebärhäuser sein.
    Die Nordstraße verlief parallel zum Alten Meer, ungefähr eine Viertelmeile davon entfernt, hinter den endlosen Dünenketten. Farber folgte ihr über Meilen hinweg die Küste entlang, während die verstreuten Häuserblocks, die Vororte von Aei, immer seltener wurden. Er fand immer nur Häuser mit einem offensichtlichen Zweck: Bauernhöfe, Maschinengeschäfte, Ziegeleien – keines konnte ein Gebärhaus sein. Hartnäckig ging er weiter. Der drohende Monolith der Altstadt hatte zunächst vor ihm und zur Linken aufgeragt; nun lag er fast hinter ihm. Der Haufen von Dächern und Türmen glänzte gegen den dunkler werdenden Nachmittagshimmel. Als er hinter ihm zurückblieb, öffnete sich die Welt vor ihm, wie sich die Stadt den Vororten geöffnet hatte, als er sich der Nordstraße zugewandt hatte. Er hatte das Gefühl, als ob das Auge Gottes sich gerade langsam geöffnet habe, wie eine übernatürliche Fernsehkamera, die ihn zu einem winzigen schwarzen Flecken reduzierte, der sich über eine ungeheuer große weiße Fläche mühte. Der Wind roch nun nach Weite, nach allen Orten, an denen er jemals gewesen war, den unermeßlichen Ausdehnungen einer fremden Welt, offen bis zum Horizont. Es war zugleich einschüchternd und anregend. Er merkte, daß er auf dieser Welt niemals außer Sichtweite der Altstadt gewesen war, daß sich seine Erfahrung von Weinunnach auf einen Radius von zwanzig Meilen beschränkte. Nun, als der Obsidianfelsen und seine Last von steilen Türmen hinter dem Horizont zu versinken begannen – wie ein skelettiertes Geisterschiff, das sinkt – spürte Farber den unvermittelten Trieb, immer weiterzulaufen, ungeachtet seines ursprünglichen Ziels. Weiter und weiter über die Schneeebene zu wandern, bis Aei verschwunden war, bis alles, was er kannte, nicht mehr da war – Liraun vergessen, ihr Kind, Ferri, die Erde, sein ganzes altes Leben ablegen und vergessen, weitergehen, bis er an einen neuen Ort geriet, eine neue Stadt, um neu zu beginnen. Es durchfuhr ihn wie sexuelle Begierde, wie ein elektrischer Strom, wie ein heißer drogengeschwängerter Wind. Es schüttelte und beutelte ihn. Einen Augenblick lang beherrschte es ihn und ritt auf ihm wie ein Dämon, dann riß er sich los. Der Wind peitschte es fort, und es war verschwunden. Er zwinkerte. Er schüttelte den Kopf.
    Er ging weiter.
    Immer noch kein Gebärhaus.
    Die Landschaft um ihn herum war unter einer mindestens zwanzig Zentimeter dicken Schneedecke begraben, wenn man auch die Nordstraße irgendwie makellos frei gehalten hatte. Hier wuchs nichts mehr, wenn man von ein paar Schneebäumen absah, die in kleinen Hainen über niedrige Hügel verstreut waren. Sie waren hoch, üppig und durchsichtig, wie Riesenspargel, wie Wachsbohnen, mit spitzen ebenholzschwarzen Kronen. Sie waren heliotrop und drehten sich zur Sonne auf ihrem Weg nach Westen. In dieser Jahreszeit, im tiefsten Winter, blühten sie, und die Luft war voll von den weißen Wolken ihrer Samen. Eine Weile lang erlebte Farber beim Wandern über die Straße eine sonderbare, angenehme Attacke von déjà vu, die so lange blieb, bis er den Grund dafür herausgefunden hatte. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für die Jahreszeit – für Shasine im Winter –, und das helle Sonnenlicht, der verhangene blaue Himmel, die treibenden Samen, dies alles zusammengenommen kam – wenn man den Schnee ignorierte – in der Wirkung einem sanften Frühlingstage auf der Erde gleich. Hemdsärmliges Wetter, Vögel singen unsichtbar im leuchtenden Himmel, süße Wolken von Kirschblüten im Wind, vielleicht eine Bande lärmender Kinder, die irgendwo Fußball spielen. Die Vision war für ihn so real, daß er fast den Mantel auszog, so abwesend war er. Aber die »Vögel« waren Eidechsen oder kleine geflügelte Beuteltiere; der Samen hatte einen üblen, fauligen Geruch, und was auch immer vor ihm lag, es war beileibe kein Fußballspiel. Das wurde ihm innerhalb eines Augenblicks klar, und die Illusion verschwand. Wieder und wieder tappte er in die Falle von Bildern und alten Denkweisen, die hier nicht mehr zutrafen, und wiederholt verriet ihn Weinunnach, ließ ihn das Nachsehen haben, riß ihm den

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