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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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Liebe«, erwiderte George, »aber es macht doch mehr Freude, sich mit unserem Neffen zu unterhalten.«
    Dennoch sagte er eine Minute später: »Wahrscheinlich hast du recht, Mad.« Wilfrid erfasste panische Angst, man könnte ihn mit Tante Madeleine allein lassen. »Es ist dir doch recht hier, mit deiner Tante, oder?«
    »Oh, bitte, Onkel George.« Wilfrid spürte, wie sich die Angst wie ein Panzer um ihn legte, aber sogleich von einer unerklärlichen Trostlosigkeit aufgewogen wurde, dass er das Kommende, was immer es sein mochte, eben aushalten musste und dass es eigentlich auch egal war.
    »Wir nehmen uns für nachher etwas Schönes vor«, sagte George, kraulte seinem Neffen zaghaft die Haare und strich sie wieder glatt. Im Türrahmen drehte er sich noch mal um. »Dann gucken wir uns deinen berühmten Tanz an.«
    Nachdem er gegangen war, griff Madeleine erfreut das Thema auf.
    »Alleine kann ich ihn nicht machen«, sagte Wilfrid, die Hände in die Hüften gestemmt.
    »Richtig, ja, ich nehme an, du brauchst Musik.«
    »Kannst du denn spielen?«, fragte Wilfrid ungläubig.
    »Ich bin kein Meister!«, sagte Madeleine einigermaßen freundlich. Sie gingen hinaus in die Halle. »Zur Not haben wir immer noch das Pianola …« Doch die Männer hatten es zum Glück schon zurück in den Kuhkorridor gerollt. Mit Madeleine hätte sich Wilfrid sowieso nicht gern an das Pianola gesetzt, und ohne damit ein neues Spiel anregen zu wollen, kroch er unter den Tisch in der Halle.
    »Was machst du da, Schatz?«, sagte Tante Madeleine.
    »Ich bin in meinem Haus«, sagte Wilfrid. Es war ein Spiel, das er manchmal mit seiner Mutter spielte, und als er sich jetzt auf den Boden hockte und mit dem Kopf beinahe an die breiten Eichenbretter stieß, kam er sich treulos ihr gegenüber vor, fühlte sich aber auch geborgen. »Du darfst mich auch besuchen kommen«, sagte er.
    »Oh …! Ich weiß nicht«, sagte Madeleine, bückte sich und sah ihn an.
    »Setz dich einfach auf den Tisch«, sagte Wilfrid. »Du musst klopfen.«
    »Ja, natürlich«, sagte Madeleine wieder mit einem typischen Blick, bloß kein Spielverderber sein zu wollen, was alles noch komplizierter machte. Folgsam setzte sie sich hin, und Wilfrid schaute an ihren baumelnden Beinen, den grünen Schuhen und dem durchsichtigen Saum ihres hochgerutschten Kleids und ihres Unterrocks vorbei nach draußen. Sie klopfte auf die Tischplatte und sagte laut: »Ist Mr Wilfrid Valance zu Hause?«
    »Oh, ich weiß nicht genau, Madam, ich gehe mal nachschauen«, sagte Wilfrid und machte ein rhythmisches nuschelndes Geräusch, das sich täuschend echt anhörte, als w ürde jemand gehen und nachschauen.
    Tante Madeleine unterbrach ihn umgehend: »Willst du denn nicht fragen, wen du melden sollst?«
    »Oh Gott, Madam, wen darf ich melden?«, sagte Wilfrid.
    »Man sagt nicht oh Gott«, korrigierte ihn seine Tante, aber es klang nicht so, als sei sie deswegen beleidigt.
    »Entschuldige, Tante Madeleine, wen darf ich melden?«
    Im Spiel mit seiner Mutter lautete die richtige Antwort: »Miss Edith Sitwell, bitte«, wobei sie nicht lachen durften. Ihr Vater lachte dagegen oft über Miss Sitwell, »Klingt wie ein Mann und sieht aus wie eine Maus«, behauptete er. Wilfrid lachte auch über sie, wenn er konnte, obwohl er in Wahrheit ziemliche Angst vor ihr hatte.
    Madeleine sagte stattdessen: »Richten Sie Mr Wilfrid Valance bitte aus, dass Madeleine Sawle da ist.«
    »Ja, Madam«, imitierte er respektvoll ihren Hausdiener Wilkes. Er »ging nachschauen« und nahm sich einige Zeit dafür. Er stellte sich das Gesicht seiner Tante vor, die jetzt sicher nervös lächelte, während sie über ihm auf der harten Tischplatte saß und wartete. Er hatte die verrückte Idee, einfach zu sagen, er sei nicht zu Hause. Doch dann kamen ihm Zweifel, und es erschien ihm allzu bequem und grausam. Dabei bestand der Sinn des Spiels, den seine Tante nicht verstanden hatte, darin, dass die Person so tat, als sei sie jemand anders. Wenn nicht, fand das Spiel schnell ein Ende, und beinahe sofort breiteten sich Langeweile und Unzufriedenheit aus. Dann schwappte plötzlich wieder seine tiefe, unter schwellige Sehnsucht nach seiner Mutter in ihm hoch, und der Schmerz, wenn er an sie dachte und an Onkel Revel, der sie jetzt porträtierte, ließ sein Gesicht versteinern. Es war ein höchst wichtiges Ereignis, von dem er unnötigerweise ausgeschlossen worden war. »Wilfrid«, sagte Madeleine plötzlich, »kannst du dich für einen Moment

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