Fremden Kind
allein beschäftigen? Ich muss nur eben schnell etwas erledigen.«
»Ja, ja, das geht schon«, sagte Wilfrid, sah seine Tante vom Tisch gleiten, die knapp zwanzig Zentimeter bis zum Boden herunterspringen und in ihren klobigen grünen Schuhen zur Treppe eilen.
Wilfrid verharrte noch zehn Minuten unter dem Tisch, umgeben von dem Geruch nach Politur; zunächst war er erleichtert, dann überfiel ihn das kalte kribbelnde Gefühl der Verlassenheit, doch schließlich entwickelte er ein rasch wachsendes und beängstigend praktisches Gespür für das, was er jetzt alles anstellen könnte. Der Dielenboden unter den Gummisohlen seiner Sandalen war ganz klebrig von der Politur. Diese unerwarteten Freiheiten in seinem engen, überwachten Leben waren verlockend, doch überschattet von der Sorge, das System, das ihm Schutz bieten sollte, könnte leicht zusammenbrechen.
Er kroch hervor, über die dicke Eichenstrebe, richtete sich auf und ging langsam und auf Umwegen zum Fuß der Treppe. Ohne die Erlaubnis von Tante Madeleine für seine Streifzüge unterstand er der willkürlichen und irrationalen Autorität seines Vaters. »Nein, Daddy«, sagte er, als er die Treppe erklomm, »ich habe nicht auf dem Flur gespielt« – und mit jeder kleinen Notlüge, die unbenutzt zurückblieb, wurde das wachsende Gefühl der Freiheit ein Stück mehr vom dunkleren Gefühl der Schuld überschattet. Die Freiheit schien sich bedenklich auszudehnen, wie angehaltener Atem. Er schlenderte den breiten Flur entlang, redete laut mit sich selbst, wiegte den Kopf hin und her – und gaukelte sich schuldbewusst vor, allein zu sein. Um die Ecke hing die »Blaue Dame« mit ihren furchterregenden Augen, daneben ein Bild von Schottland, auch »Der Ziegengrund« genannt. Ein Dienstmäd chen trat aus einem der Räume und querte den Flur zur Hintertreppe, wundersamerweise, ohne ihn zu sehen, und er kam an die Tür zur Wäschekammer. Der schwarze Porzellanknauf fühlte sich gewaltig an in der Kinderhand, hing aber nur lose in der Tür, sodass er verräterisch klapperte, als er daran drehte, und die Tür sofort quietschend zum Flur hin aufsprang und so weit zur Seite schwang, dass sie gegen den Stuhl daneben stieß, wenn man sie nicht festhielt.
Als er die Tür wieder aufmachte, tat er so, als sei nicht viel Zeit vergangen. Weit weg, unten in der Halle schlug die Uhr, Viertel nach, halb, Viertel vor, nur die Stunde an sich hing unangekündigt im grauen Licht des Flurfensters. Er schaute nach rechts und links, mit einer Angst, die in der Wäschekammer wie durch Zauberei gebannt gewesen war, und mit einer starken innerlichen Anspannung, was ihn auf dem langen Flur und der Treppe erwartete. Die Angst setzte sich teils aus dem Schuldgefühl von vorhin zusammen, teils aus einem anderen seltsamen Gefühl, nämlich, dass vielleicht niemand ihn vermisst hatte. Am besten wäre es doch, die andere Hintertreppe zu nehmen, die sich am Ende des Hauptkorridors befand, von da aus würde er zum Kinderzimmer gelangen und einfach behaupten, er sei die ganze Zeit dort gewesen. Er schloss die Wäschekammertür, gab den Türknauf vorsichtig frei, ging los, hielt sich dabei dicht an der Wand und spähte um die Ecke.
Mrs Kuh lag bäuchlings auf dem Boden, die rechte Hand hielt locker den Stock umklammert, welcher den langen Perserteppichläufer wie eine Bugwelle gegen die Beine eines kleinen Tisches geschoben hatte, wobei die Bronzestatue eines Jägers umgefallen war, der nun ebenfalls bäuchlings, mit abstehendem Speer, schwer auf dem Boden ruhte. Der andere Stock lag einen knappen Meter neben ihr, als hätte sie ihn in einem plötzlichen Anfall oder dem Versuch, etwas abzuwehren, weggeworfen, und der linke Arm eingeklemmt unter ihrem Rumpf und so angewinkelt, dass es für einen Men schen bei Bewusstsein äußerst schmerzhaft gewesen wäre. Wilfrid starrte hin, schaute weg, näherte sich übervorsichtig, rollte konzentriert die Füße in den Sandalen ab, damit ihn niemand hörte, schon gar nicht die alte Dame selbst. Wie geistesabwesend sagte er: »Oh, Mrs Kuh …?«, als setzte er zu einer Frage an, die sich beim Sprechen schon einstellen würde: Hauptsache, er lenkte die Aufmerksamkeit der erwachsenen Person auf sich. Natürlich ahnte er, dass sie nicht antworten würde, niemals mehr eine Frage beantworten würde in ihrem eigenwilligen deutschen Akzent. Dennoch schien es ratsam, für eine Weile weiter freundlich so zu tun, als ob sie noch immer zu einem Gespräch aufgelegt sei. Jetzt
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