Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
Vom Netzwerk:
nicht sagen konnte. Er trat noch weiter vor ins Licht und hoffte, seine fleckigen Wangen und seine triefende Nase wären Beweis genug, dass etwas Schreckliches passiert war, doch es auszusprechen war ihm unmöglich. »Daddy«, sagte er, »ich habe gerade … Mrs Kuh gesehen.«
    »Ach ja?«, sagte sein Vater nur, sofort sichtlich enttäuscht.
    »Ich glaube, sie ist hingefallen.«
    Sein Vater machte ein abschätziges Geräusch und ging zum Schreibtisch, schaltete die Lampe ein und sichtete einige Papiere, als wäre er bereits wieder mit Wichtigerem beschäftigt. Sein Haar, sonst schwarz und pomadig, stand auf einer Seite wie ein Flügel ab. Nanny schien von dem Ganzen vollkommen unberührt, sie war aufgestanden, strich ihr Kleid glatt und suchte zwischen den Sofakissen nach ihrer Handtasche. Ohne ihn anzusehen, fragte Dudley: »Und hast du ihr gesagt, sie soll aufstehen?«
    »Nein, Daddy«, antwortete Wilfrid und spürte nach dieser Gemeinheit seines Vaters einen neuerlichen Weinkrampf in der Brust aufsteigen. »Sie kann gar nicht aufstehen, um genau zu sein.«
    »Hat sich beide Beine gebrochen, was?«
    Wilfrid schüttelte den Kopf, aber bekam keinen Ton heraus, aus Angst, gleich zu weinen, was sein Vater nicht ausstehen konnte.
    »Soll ich nicht doch lieber mal nachschauen, Sir Dudley?«, sagte Nanny unwillig und richtete ihre Frisur. Es war ihr freier Tag, wahrscheinlich wollte sie nicht in die Sache mit hineingezogen werden. Bedächtig, eine Drohgebärde vortäuschend, wie er es sonst beim Geschichtenerzählen tat, wandte Dudley den Kopf und starrte Wilfrid an.
    »Willst du mir vielleicht damit sagen, Wilfrid, dass Mrs Kalbeck tot ist?«
    »Ja, Daddy!«, rief Wilfrid, und vor Erleichterung entfuhr ihm beinahe ein Grinsen, just in dem Moment, als ihm die aufgestauten Tränen aus den Augen stürzten.
    »Sie hätte eben nicht herkommen sollen«, sagte sein Vater, noch immer unentschlossen, aber wenigstens gab er nicht mehr Wilfrid die Schuld, so schien es. Er sah Nanny scharf an. »Meinen Sohn derart zu erschrecken.« Dann stieß er ein überraschendes Lachen aus. »Das wird ihr eine Lehre sein, was? Die Frau wird nicht noch mal herkommen.«
    Nanny stand hinter Wilfrid und legte zögerlich ihre Hände auf seine Schultern. »Nicht weinen, sei ein braver Junge«, sagte sie. Er gab sich alle Mühe, ihr zu gehorchen, wollte es so gern, doch als er an das Gesicht der toten Frau dachte und an ihre Hand, die sich von allein bewegt hatte, überkam es ihn wieder wie eine Welle.
    »Nanny, laufen Sie zu Wilkes und rufen Sie von seinem Zimmer aus Dr. Wyatt an«, sagte sein Vater.
    »Sofort, Sir Dudley«, sagte Nanny. Wilfrid würde selbstverständlich mitkommen, doch in der Tür kamen Nanny Zweifel, sie drehte sich noch mal um, und sein Vater nickte und sagte: »Du bleibst hier, alter Knabe.«
    Wilfrid ging zu seinem Vater und wurde für ein, zwei Sekunden an die Rockschöße des schweren Brokatmorgenmantels gedrückt. Es war ein kleines Privileg, als gönnte man ihm ein erlesenes Zugeständnis, das nur dann gewährt wurde, wenn etwas Furchtbares geschehen war, und vor lauter Verwunderung darüber hörte er umgehend auf zu weinen. Dann gingen sie – unter ihren Füßen knirschten die spitzen Porzellanscherben – gemeinsam zum Fenster und zogen jeder einen Vorhang zurück. Kein Wort wurde über das Tafelservice verloren; und sein Vater hatte bereits den boshaften, fahrigen Blick, der manchmal ein ganz besonderes Vergnügen ankündigte, eine Idee, die ihm überraschend gekommen war und mitgeteilt werden musste. Es war wie das »irre Flackern«, aber meistens freundlicher. Er starrte in den Garten, die Augen streng fixiert auf irgendetwas, sodass Wilfrid im ersten Moment dort die Quelle seines Vergnügens vermutete, und fing an zu reden, zunächst zu leise und zu schnell, um ihm folgen zu können. »Die Leiche lag krumm – auf dem Boden herum – mucksmäuschenstumm –«
    »Oh, Skelettisch, Daddy«, sagte Wilfrid, und sein Vater grinste nachsichtig.
    »… Mrs Kuh mit der Gicht – und dem Schweinsgesicht – nun still endlich ist –« Er wandte sich ab und ging aufgeregt im Zimmer umher, und Wilfrid bemerkte gedankenverloren, dass ihm das Humpeln seines Vaters sonst eigentlich nie auffiel – »Mit ihrem Wagner und Liszt – und ihr Haar immer wirr – und ihr Blick immer irr – wie ein grässlicher Hunne – mit Stahlhelm und Wumme – was ist?«
    »Ja, Daddy …«
    »– Die alte Walküre – voll Puder und Schmiere – als

Weitere Kostenlose Bücher