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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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stand er vor ihrem Kopf, der zur Seite gedreht lag, die linke Wange auf dem Teppich, und Wilfrid sah ihr rechtes Auge, verschleiert, halb geöffnet. Das Auge sah ihn nicht an, schien aber an der stummen Suche nach etwas außerhalb ihrer Reichweite beteiligt gewesen zu sein, irgendetwas, das ihr vielleicht geholfen hätte. Zitternd, nur leicht, aber unkontrolliert, kauerte er sich neben sie und wandte seinen eigenen Kopf seitwärts, um ihren Blick aufzunehmen, worauf jeder normale Mensch mit einem Zwinkern des Erkennens reagiert hätte. Jetzt sah er, dass ihr Mund, der ebenfalls halb offen stand, Speichel abgesondert hatte, dessen Glanz verblasste, je tiefer er das Rot des Teppichs färbte.
    Der linke Arm der alten Dame klemmte unter ihrem Körper, doch die Hand ragte hervor, und da lag sie, klein und pummelig, mit Höckern und Grübchen übersät, auf dem Teppich. Wilfrid sah sie sich aus seiner Hockstellung an, dann stand er auf und ging um den Körper herum. Er hatte Angst, die Hand könnte sich bewegen, und doch – seltsam, fast ekelhaft – lockte sie ihn auch. Er schaute sich wieder um, hielt den Atem an, bückte sich, streckte die Finger danach aus – und hob sie an. Sofort ließ er sie wieder fallen, presste die eigenen warmen Hände zusammen und klemmte sie dann unter die Achselhöhlen, eine Angewohnheit von ihm. Er starr te Frau Kalbecks wie fallen gelassene Hand an, und in dem Moment, als er sich abwandte, rührte sie sich doch, wiegte etwas zurück und kam wieder so zum Liegen wie vorher.
    Auf der Treppe weinte er so sehr, dass er kaum erkennen konnte, wo er hintrat – kein wildes Huhu, sondern von Klagen begleitete Tränenströme, die mit jedem Tritt auf die nächste Stufe in seltsame Stoßseufzer mündeten. Hilflos stapfte er bis zur Tür des Arbeitszimmers seines Vaters. Es war der abweisendste Raum im ganzen Haus, unermesslich groß, und alles darin, Uhr, Kamingitter, Papierkorb, war besetzt mit Verboten. Der väterliche Zorn, der sich gestern Abend am Klavier entladen hatte, hatte sich darin zurückgezogen wie ein Drache in seinen Bau. Einen Moment blieb Wilfrid draußen stehen und wischte sich die Nase gründlich mit dem Ärmel ab. Er fühlte sich hilflos, war im Kopf aber klar. Anzuklopfen hieße, mehr Spannung als zuträglich in die Sache zu legen und im Voraus einen neuerlichen Wutausbruch über sich ergehen lassen zu müssen, deswegen drehte er ganz behutsam am Türknauf.
    Der Raum war unerwartet dunkel, die schweren Vorhänge fast ganz zugezogen. Wilfrid trat vor, lauschte nicht bewusst auf die tickende Uhr, glaubte aber zu spüren, wie sich der Zeitraum zwischen den dumpfen Schlägen des Pendels im mer weiter ausdehnte, als überlegte sie, stehen zu bleiben. Der Lichtbalken quer über den roten Teppich verdunkelte die Schatten in den ersten paar Sekunden noch mehr. Wilfrid wusste, dass sein Vater morgens immer Kopfschmerzen hatte und jedes Licht mied, was ihn noch verzweifelter nach einer Entschuldigung für sein Eintreten suchen ließ. Gleichzeitig enthüllte der einzige Lichtbalken die Wülste und Knoten im Teppich, was etwas leicht Befremdliches hatte, wie in einem Traum – in diesem Haus, in dem er alle Teppiche als Territorien oder Burgen, Spielflächen oder Hüpffelder begriff, befand sich ein Raum mit einem Teppich, auf dem er noch nie herumgehüpft war.
    Minutenlang schienen sie ihn nicht zu sehen, und als er näher trat, hätte er noch immer die Möglichkeit gehabt umzukehren; erst wenn die Tür hinter ihm klickend ins Schloss fiel, würden sie seine Anwesenheit bemerken. Nanny, mit dem Rücken zu ihm, hatte auf dem Sofa die Beine hochgelegt und sah seinen Vater an, der am Ende des Lichtbalkens neben dem Kamin stand. Er war noch immer im Morgenrock und sah mit seinem Schwert in der Hand wie ein Ritter aus. In diesem Raum war das Kamingitter eine Burg mit Messingzinnen, auf der Kaminplatte dahinter türmte sich ein Haufen zerschlagener Teller, und verstreut auf dem Teppich lagen noch mehr Porzellanscherben. Wilfrid sah das Muster, es waren die schweren französischen Teller mit dem Hahn drauf, das Hochzeitsgeschenk, das alle abscheulich fanden. Jetzt hatte Nanny ihn gehört und schaute sich um, richtete sich auf und drückte ein Kissen an sich. »Captain«, sagte sie.
    »Was ist?«, sagte sein Vater, wandte sich Wilfrid zu, stirnrunzelnd, nicht wütend, sondern so, als wollte er etwas herausfinden. Er legte das Schwert auf dem Kaminsims ab.
    In dem Moment wusste Wilfrid, dass er es

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