Fremden Kind
der Sitzbank Platz nahm, ließ das Pony noch schnell einen schweren Batzen Dung auf den Kies fallen. Wilfrid kicherte, und Corinna rümpfte angeekelt die Nase. Ruckartig setzte sich der Einspänner in Bewegung und fuhr mit raschem Tempo davon, als wäre nichts geschehen, und es blieb nur noch dem Burschen, die Schaufel zu holen. Am Ende der Einfahrt drehte sich Granny Sawle noch einmal um und winkte. Wilfrid stand neben seinem Onkel und seiner Tante und winkte halbherzig und von der Sonne geblendet zurück. »Tja, Wilfrid, da wären wir also«, sagte Tante Madeleine und hatte es damit seiner Ansicht nach auf den Punkt gebracht. Steif ragte die Tante über ihm auf, versperrte ihm die Sicht auf einen glücklicheren Morgen, an dem er mit Onkel Revel an einem Tisch gesessen und Vögel und Säugetiere gemalt hatte. Als sie wieder ins Haus zurückgingen, trat mit einem seltsam starren Lächeln seine Mutter aus dem Frühstückszimmer.
»Hoffentlich habt ihr wenigstens ein paar Minuten schlafen können«, sagte sie.
»Ach, ein bisschen mehr als ein paar waren es schon«, sagte Onkel George. »Zehn, mindestens!«
»Ich immerhin eine geschlagene halbe Stunde«, sagte Tante Madeleine, offenbar ohne jede Ironie.
»Was für eine Nacht«, sagte George. »Ich habe das Gefühl, ich bin noch immer ganz grün im Gesicht. Ich verstehe nicht, wie du da mithalten kannst, Daph.«
»Es erfordert ein bisschen Übung«, sagte sie. »Man muss hart im Nehmen sein.«
Wilfrid starrte seinen Onkel an und suchte nach Spuren exotischer Farben in seinem Gesicht. Eigentlich waren George und seine Mutter ziemlich blass.
»Und wie geht es dir, Mummy?«, sagte er.
»Guten Morgen, mein Kleiner«, sagte seine Mutter.
»Macht ihr das jedes Wochenende?«, wollte Madeleine wissen.
»Nein, manchmal sind wir auch ganz still und brav, nicht, mein Engel?«, sagte seine Mutter. Wilfrid lief zu ihr, sie bückte sich und drückte ihn an sich, und er spürte, wie ein Schauder durch ihren Körper ging und hielt sie noch fester umschlungen. Dann richtete sie sich auf, und er war mehr oder weniger gezwungen, sie loszulassen. Sie streckte noch mal flüchtig die Hand nach ihm aus, war aber schon nicht mehr ganz anwesend. Er schaute zu ihr auf, und die zutiefst vertraute, vollendete Ebenmäßigkeit ihres Gesichts, das Wimpernzucken, die feinen Linien um den Mund, wenn sie lachte, Schönheiten, die er immer gekannt und nie für nötig erachtet hatte zu beschreiben, schienen für einige schreckliche Sekunden plötzlich einem anderen Menschen zu gehören. »Jetzt muss ich aber los«, sagte sie.
»Nein, Mummy …«, sagte Wilfrid.
»Es ist wahrlich nicht der beste Zeitpunkt«, erklärte sie Madeleine, »aber Revel hat mir angeboten, ein Porträt von mir zu malen. So eine fabelhafte Offerte darf man einfach nicht ablehnen, nicht mal, wenn man einen Kater hat.«
»Das verstehe ich gut«, sagte George unverdrossen lächelnd. »Doch, doch, das ist schon was Besonderes.«
»Oh, Mummy, darf ich mitkommen? Darf ich mitkommen und zugucken?«
Wieder sah seine Mutter ihn mit einem merkwürdig milden Blick an, in dem noch etwas anderes lauerte, etwas Kränkendes, Humorvolles. »Das ist keine gute Idee, Wilfrid. Ein Künstler muss sich konzentrieren. Aber du darfst das Bild sehen, wenn es fertig ist.« Es war zu viel für ihn, begleitet von einem erstickten Wimmern, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er sehnte sich nach seiner Mutter, und doch stieß er sie weg, schrie und schluckte schwer, wehrte alle ab, und die Tränen kullerten auf sein Hemd.
Als sein Heulkrampf abgeklungen war, sollte er für unbestimmte Zeit mit Onkel George und Tante Madeleine allein bleiben. Sie zogen in die Bibliothek um, wo George sich an den leeren Kamin stellte und aufmunternd auf seinen Neffen einredete. Wilfrid drehte teilnahmslos den großen Globus mit seinen vertrauten Flecken in British Pink erst in die eine, dann in die andere Richtung. Mit den Händen schlug er leicht auf den lackierten Pappmachéball ein, und die Welt hallte leise in ihrem Innern nach. Wie häufig nach solchen tränenreichen Entladungen war er geistesabwesend und fühlte sich schwach, und er brauchte Zeit, um sich wieder zu fangen.
»Deinen Vater hast du heute Morgen wohl noch nicht gesehen, was?«, sagte George.
Wilfrid überlegte, wie er die Frage beantworten sollte, dann sagte er: »Morgens sehen wir Daddy nie.«
»Ach, wirklich?«
»Na ja, jedenfalls meistens nicht. Er schreibt an seinem Buch.«
»Ach so, ja«,
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