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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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ständig, zum einen die ausgelassene stürmische Musik, bei der man die Männer in der Takelage hängen sah, zum anderen, kaum hatte sich der Sturm gelegt, die allerschönste Melodie, die sie je gehört hatte, aus der Tie fe sich heraufschraubend, schwelgerisch und frei, und dennoch unendlich traurig, und beides auf seine Weise unab wendbar. Sie verstand nicht, was Senta sang, außer den immer wiederkehrenden Klang des Wortes Mann , doch sie hörte die leidenschaftliche Liebe heraus, das Legendenhafte, für das sie ein natürliches Gespür besaß. Emmy Destinn stellte sie sich als Getriebene vor, mit langen schwarzen Haaren, schon durch ihren eigenen vielsagenden Namen gebrandmarkt. Im selben Moment sang sie einen sehr hohen Ton, und die Bläser fielen wieder polternd die Treppe hinunter. Daphne lief zum Grammofon und hob die Nadel von der Platte.
    »Leider ist es gekürzt«, sagte Mrs Kalbeck. »Eigentlich hat die Ballade noch zwei Strophen mehr.«
    »Das sagten Sie bereits, meine Liebe«, bemerkte Freda scharf, um dann, wie immer, zu beschwichtigen: »Man kann eben nur so viel auf einer Platte unterbringen. Für mich sowieso ein Wunder, dass es überhaupt geht.«
    »Sollen wir sie noch mal hören?«, fragte Daphne und sah sich nach ihnen um.
    »Warum nicht!«, sagte ihre Mutter im Ton harmloser weib licher Verschwörung, dem angesichts der Phalanx leerer Gläser vor ihr etwas Prahlerisches anhaftete. Mrs Kalbeck gab wehrlos nickend ihr Einverständnis. Schallplatten waren tatsächlich ein Wunderwerk und doch nur winzige Tropfen aus dem Meer der Musik.
    Während der Wiederholung schritt Daphne langsam durch den Raum, nahm ihr Glas, trank es mit einem Schluck aus und stellte es wieder hin. Ein seltenes Gefühl überkam sie, eine sich allein aus der rastlosen Ballade Wagners auf sie übertragende Mischung aus Betrübnis und Befriedigung. Als die Musik ihrem Ende zuraste, schlüpfte Daphne hinaus in den Garten. »Ob das so gut für dich ist, meine Liebe?«, jammerte ihre Mutter. Jenes andere Bündnis, das Daphne mit den Jungen im Wald geschlossen hatte, wirkte weitaus verlockender als die Gesellschaft der beiden alten Damen. »Es könnte Tau geben!«, sagte Freda, und es klang wie eine Lawinenwarnung.
    »Ich weiß«, rief Daphne und griff zur nächstbesten Ausrede: »Ich habe Lord Tennyson draußen im Tau liegen lassen!« Solche Notlügen flogen ihr zu.
    Sie zog an der Fensterreihe des Hauses vorbei und blieb am Rand des Rasens stehen. Das Gras war trocken, sie bückte sich und berührte es, für Tau war es noch viel zu warm. Warm und doch nicht warm. Mit dem Blick von außen auf das Haus fiel ihr der schmerzliche Moment der Einsamkeit von vorhin wieder ein, als die Sonne unterging und im Haus die Lichter angezündet wurden. Sie musste die Bücher wiederfinden, und sie würden dort sein, wo sie sie liegen gelassen hatte, neben der Hängematte. Es galt, sich auf die Tennyson-Lesung vorzubereiten, die Cecil vorgeschlagen hatte und die sie sich schon lebhaft vorstellte. »Ich werde Maienkönigin nun sein, Mutter, ich werde Maikönigin nun sein«, oder: »Der Fluch fiel auf mich, rief die Lady von Shalott.« Natürlich ging es ganz anders. Wie nur? Und wo steckten die Jungen? Scheinbar hatte die Nacht sie völlig verschluckt und nur das Wispern des Windes in den Baumwipfeln hinterlassen. Lediglich schwarze Silhouetten vor grauem Hintergrund konnte sie erkennen, doch die Luft war erfüllt vom Geruch der Bäume und des Grases. Im verborgenen Strom der Düfte erholte sich die Natur, während Menschen, die meisten Menschen, achtlos in ihren Häusern blieben. Ligusterdüfte gab es, erdige Düfte und Rosendüfte, und sie alle nahm sie in ihrem rauschhaften Lauf über den Rasen wahr, ohne sie zu benennen. Die ungeheure Verwegenheit, allein hier draußen zu sein, ließ ihr Herz rasen, sie trieb dahin und gelangte zu der Steinbank und blieb stehen, um Ausschau zu halten. Am Himmel versammelten sich unermüdlich die Sterne, glitten zwischen Wolkenschweifen hervor, als hätten sie sich an das Menschenkind unten gewöhnt. Direkt vor ihr vernahm sie ein schwaches Stöhnen, rasch er stickt, dann ein bereits vertrautes perlendes Kichern; und noch einen Duft, nicht Gras, nicht Pflanzen, sondern das Gentleman-Aroma, das Cecils Zigarre verströmte.
    Sie ging die paar Schritte zu der Baumgruppe, in der die Hängematte festgebunden war. Wieder wusste sie nicht, ob sie bemerkt worden war oder nicht. Merkwürdig, es war wie der Moment der

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