Fremden Kind
geschnürt, und das geraffte Rückenteil kniff wie eine Turnüre. Daphne sah ihr einige Sekunden zerstreut zu, und auf einmal erschien ihr die Gestalt ihrer Mutter, die ihr inniger und nachhaltiger vertraut war als alles andere auf der Welt, wie die einer gänzlich Unbekannten, einer resoluten kleinen Frau vor ihr in einem Geschäft oder im Theater. »Tja, also ich muss noch ein paar Briefe schreiben!«, verkündete Hubert. Mrs Kalbeck lächelte fad, um ihm zu bekunden, dass sie bei seiner Rückkehr immer noch da wäre.
Das aufrecht stehende, mahagoniverkleidete Grammofon war ein Geschenk ihres Nachbarn Harry Hewitt. Von der rechts aus dem Kasten ragenden Kurbel abgesehen sah es aus wie ein Sheraton-Schränkchen, und vor den Gästen den Deckel aufzuklappen und die Schubladen zu öffnen und ihnen den eigentlichen Zweck zu demonstrieren gehörte zum Spaß am Musikhören dazu. Es hatte keinen Schalltrichter, und die Schubladen waren auch eigentlich keine Schubladen, sondern Lamellentüren, die das geheimnisvolle Fach ver bargen, aus dem die Musik ertönte.
Ihre Mutter bückte sich jetzt nach dem untersten Regalfach, zog einige Schallplatten hervor und suchte Sentas Ballade. Es war nur ein Dutzend Platten, aber natürlich sahen sie alle gleich aus, und Freda hatte ihre Brille nicht auf.
»Kriegen wir den Holländer zu hören?«, fragte Mrs Kalbeck.
»Wenn Mutter ihn finden kann«, sagte Daphne.
»Ach, schön.« Die alte Dame lehnte sich mit einem Glas Cherry-Brandy in der Hand und einem gütigen geduldigen Lächeln zurück. Sie hatte alle Platten der Familie Sawle schon mehrmals gehört, John McCormack oder Nellie Melba, so dass sich in die Spannung das Gefühl des Immergleichen mischte, was ihrer Freude keinen Abbruch tat.
»Ist sie das hier?« Freda las mit zusammengekniffenen Augen die winzige Schrift auf dem Label.
»Komm, lass mich mal«, sagte Daphne, kniete sich neben sie und stupste sie so lange an, bis sie zur Seite ging.
Es war auch Daphnes Lieblingsplatte, weil sich etwas Unbeschreibliches in ihr ereignete, wenn sie sie hörte, anders als bei La Traviata oder der »Linden Lea«. Jedes Mal freute sie sich darauf, diese heftigen, beinahe schmerzlichen Emotionen aufs Neue zu durchleben. Sie legte die Scheibe auf die Matte, trank einen großen Schluck aus ihrem Glas, hustete verschämt und drehte die Kurbel bis zum Anschlag.
»Vorsicht, Kindchen!«, sagte ihre Mutter, eine Hand am Kaminsims, den Blick starr geradeaus, als wollte sie gleich selbst zu einer Arie ansetzen.
»Ein kräftiges Mädchen«, stellte Mrs Kalbeck fest.
Daphne senkte die Nadel und ging sogleich zur Terrassentür, um Ausschau nach den Jungen zu halten.
Das Orchester, da war man sich einig, ließ manches zu wünschen übrig. Die Streicher schrill wie Blechflöten und die Blechbläser polternd, als würde ein schwerer Gegenstand eine Treppe hinuntergeworfen. Daphne konnte dem zugutehalten, dass sie in der Queen’s Hall immerhin schon mal ein echtes Orchester gehört hatte, und sie hatte eine Aufführung von Das Rheingold in Covent Garden gesehen, bei der sechs Harfen, mehrere Ambosse und ein gewaltiger Gong mitgespielt hatten. Man fand sich mit den Unzulänglichkeiten einer Schallplatte ab, wenn man wusste, wofür die blecher nen und polternden Sequenzen standen.
Als Senta anhob zu singen, war man sogleich in ihrem Bann – Daphne sagte dieses Wort mit einem genüsslichen Schauder vor sich hin. Sie ließ sich auf einer Fensterbank nieder, den Shawl fest um sich geschlungen, und als der Ginger-Brandy ihre Lippen benetzte, trat ein geheimnisvolles Lächeln auf ihr Gesicht. Sie hatte vorher schon mal richtigen Alkohol getrunken, ein halbes Glas Champagner, als Huey volljährig wurde, und einmal, vor Jahren, hatten sie und George ein we nig kühn mit dem Brandy der Köchin experimentiert. So ein Drink war herrlich und aufwühlend, wie die Musik. Die un heimlichen Rufe des Mädchens ergriffen sie, Johohoe, Johohoe, eine deutliche Warnung vor einem tragischen Ereignis, doch zugleich hatte sie das köstliche Gefühl, dass sie sich um nichts, um gar nichts sorgen musste. Beiläufig sah sie zu den anderen: ihre Mutter, gefasst, wie auf den Ansturm der Meereswogen, Mrs Kalbeck, als die reifere Genießerin, den Kopf zur Seite geneigt. In Spontaneität lag Schönheit, und gerne hätte Daphne geäußert, was ihr durch den Kopf ging, doch sie hielt sich zurück. Versonnen betrachtete sie den Perserteppich. Zwei Abschnitte wiederholten sich
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